22. Dezember 2024

Rezessivweiße Kanarien

veröffentlicht in „Der Vogelfreund“ 12/2022

Aufgehellt Rezessivweiß
aufgehellter rezessivweißer Kanarienvogel

Rezessivweiße Kanarienvögel haben eine vollständig weiße Grundfarbe, haben also weder gelbe noch rote Gefiederstellen.

Es gibt jedoch auch Kanarien mit Melanin (Dunkelfarbstoffe) und einer rezessivweißen Grundfarbe.

Rezessivweiße und rezessivweißgrundige Kanarien werden von manchen Menschen als Qualzucht betrachtet.

Was ist dran an diesem Vorwurf. Hier finden Sie die wissenschaftlich fundierte Antwort.

Geschichte

Es war im Jahr 1908, als in der Yorkshire-Kanarienzucht der Mrs. Lee aus Martinborough auf Neuseeland ein vollkommen weißes Jungtier schlüpfte. Da es sich um ein Weibchen handelte, verpaarte sie es im darauffolgenden Jahr mit einem aufgehellt gelben Yorkshire-Männchen. Alle Jungvögel aus dieser Verpaarung waren gelb. Frau Lee gab ihre Vögel an Mrs. Maud Martin ab, die 1910 diese gelben Vögel untereinander verpaarte. Die Nachzucht aus diesen Verpaarungen bestand aus Gelben und Weißen, in einem Verhältnis von drei gelben zu einem weißen Vogel. Nun konnte Frau Martin weiße Vögel miteinander verpaaren, wobei die gesamte Nachkommenschaft nur die weiße Gefiederfarbe zeigte.

Gleichzeitig trat bei Mr. Kiesel aus London ebenfalls weiße Kanarien auf, die er ebenfalls mit gelben Kanarien verpaarte. Da nur gelbe Jungvögel geboren wurden, gab er diese Vögel an den bekannten niederländischen Züchter C. L. W. Noorduijn aus Groningen ab. Obwohl die Vögel sich in den Händen eines erfahrenen Züchters befanden, verschwand der Stamm 1918.

Frau Martin experimentierte inzwischen weiter und verpaarte ihre weißen Vögel mit grünen (heute als „schwarz gelb“ bezeichnet) und erhielt schieferfarbene Jungvögel, die heute als „schwarz weiß“ bezeichnet werden. Diese nunmehr als „englischweiß“ bezeichneten Vögel wurden in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg berühmt. Leider gerieten sie immer mehr in Vergessenheit, da sich die Züchter verstärkt auf die Erzielung „feuerroter“ Kanarien konzentrierten. Schon glaubte man, dass diese weiße Art ausgestorben sei, als 1955 bei dem Züchter Techet aus der Pfalz reinweiße Vögel auftauchten, die sich als Englischweiße erwiesen. Auch aus der Schweiz berichteten 1956 zwei Züchter, dass in ihrem Zuchtstamm solche Vögel aufgetaucht sind, Anfang der 1960er Jahre auch in Frankreich und Belgien.

Anhand der Verpaarungsergebnisse war recht schnell klar, dass es sich bei dieser Mutation um ein rezessiv und unabhängig vom Geschlecht vererbendes Merkmal handelt.

Keine der frühzeitigen Berichte schildert eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen oder anderer Krankheitsanzeichen und eine daraus resultierende geringe Lebenserwartung rezessivweißer Kanarien. Vielleicht aus Scham, da solche negativen Aussagen am guten Image der Züchter kratzen könnte? Oder trat diese negative Eigenschaft erst später auf?

Erst Julius Henniger berichte 1962 in seinem Werk, dass es Tatsache wäre, „… daß sie auch das für die Bildung des lebenswichtigen „Vitamins A“ notwendige Karotinoidß-Karotin“ nicht besitzen und deshalb ohne züchterische Hilfe an chronischen Vitamin-A-Mangel leiden und deshalb leicht eingehen.“

Und weiter: „Die Besitzer und die Züchter von „englischweißen“ Kanarien müssen daher durch geeignete dauernde Beifütterung von „fertigem Vitamin-A“ dafür sorgen, daß ihre selbständig fressenden englischweißen Vögel gesund bleiben. Dies geschieht am einfachsten durch eine tägliche Gabe von frischer Vollmilch, die von den Vögeln gern getrunken wird. Man kann aber auch Sahne, Butter, fetten Quark oder Speck-(Schwarte) reichen, die alle reichlich fertiges Vitamin A enthalten.“[1]

Aufgrund dieser Hinweise versuchten die Züchter des letzten Jahrhunderts, mit tierischen Produkten die anfälligen Vögel körperlich zu stabilisieren. Wer seine rezessivweißen Vögel optimal ernährte, ihnen ein hochwertiges Aufzuchtfutter – mit hartgekochtem Ei, Ei- und Milchpulver, gehaltvollen Quark, Lebertran und auch mit getrockneten Insekten – anbot, hatte kaum Sorgen mit seinen Vögeln.

Wissenschaftliche Untersuchungen

1998 konnte eine wissenschaftliche Untersuchung[2] bestätigen, dass homozygote (reinerbige) rezessivweiße Kanarien in der Leber, im Fettgewebe und im Blutserum einen sehr niedrigen, fast nicht nachweisbaren, Gehalt an Vitamin A hatten. Zu dieser Untersuchung wurden vier Gruppen gebildet, die jeweils aus „normalen“ Farbenkanarien und rezessivweißen Kanarien bestanden (die von Josef Kamphues zur Verfügung gestellt wurden). Alle Gruppen bekamen nach einer Vorbereitungszeit von 140 Tagen das gleiche Futter, das lediglich aus Körnerfutter ohne Rübsen und aus Zwiebackmehl, das mit destillierten Wasser angefeuchtet wurde. In den darauffolgenden 170 Tagen wurde bei drei Gruppen das Zwiebackmehl mit einer jeweils unterschiedlichen Gabe von Beta-Carotin bzw. Vitamin A versetzt. Nach der Versuchsdauer wurden die Lebergewichte, das Fettgewebe und das Blutplasma und deren Vitamin-A-Konzentration festgestellt und verglichen (dazu mussten sicherlich die Vögel getötet werden). Die Vergleiche ergaben, dass rezessivweiße Kanarien 18.000 IE/kg Vitamin A im Futter benötigen, um den notwendigen Vitamin-A-Spiegel zu erreichen (1 IE Vitamin A ≙ 0,3 µg Retinol ≙ 0,6 µg Beta-Carotin). Zuchtversuche während, und Untersuchungen des Gesundheitszustandes nach der Versuchszeit, wurden offenbar nicht vorgenommen.

Die Forschergruppe empfahl, dass rezessivweiße Kanarien zusätzlich mit Vitamin-A-Produkten versorgt werden müssen. Weiterhin empfahlen sie eine separate Unterbringung der rezessivweißen Kanarien. Bei gemeinsamer Unterbringung und Fütterung würde eine hohe Gabe von Vitamin A den nicht rezessivweißen Vögeln auf Dauer schaden, denn sie könnten an einer Hypervitaminose mit negativen gesundheitlichen Problemen erkranken.

Im Jahr 2017 gab es eine weitere wissenschaftliche Untersuchung[3], die die genetischen Ursachen der Mutation erforschen sollte. Durch das Forscherteam der Universität Texas wurde das Genom lipochromfarbiger Kanarien mit dem Genom der Rezessivweißen verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass das auf dem Chromosom 15 befindliche Gen SCARB1 mutiert ist. Das unmutierte Gen bewirkt, dass ein auf  den Zellen  aufliegendes  Membranprotein einen molekularen Tunnel bildet, durch den ein Stofftransport in die Zellen erfolgt.

Carotinoid-Konzentrationen in Leber, Netzhaut, Haut und Federn von typisch gelben (gelbe Punkte) und weiß-rezessiven (wr; offene Punkte) Kanarienvögeln. Die Linien stellen die Mittelwerte für jede Rasse und jedes Gewebe dar (nach 3).

Aufgrund der Mutation von SCARB1 – ich nenne es wr+ (nicht weiß rezessiv) – wird bei den rezessivweißen Kanarien verhindert, dass Carotinoide durch diesen Tunnel in die Zellen gelangt. Deshalb können die Zellen aus den mit der Nahrung aufgenommenen Carotinoiden (Provitamine A) kein Vitamin A und kein Lipochrom bilden. Auch hier wurde festgestellt, dass die untersuchten Körperzellen keinen oder nur einen sehr geringen Vitamin-A-Gehalt besaßen. Bei dieser Untersuchung wurden ebenfalls keine Zuchtversuche vorgenommen oder Gesundheitskontrollen durchgeführt. Deshalb gab es auch keine Empfehlungen für die Haltung und Zucht der rezessivweißen Kanarien.

2006 wurde eine deutlich mehr praxisbezogene Untersuchung der Universität Leipzig gestartet[4]. Die Züchterfreunde Fred Werner und Wolfgang Ohde stellten rezessivweiße Kanarien und lipochromhaltige Gloster Fancy zur Verfügung. Alle 24 Vögel wurden vor dem Versuch klinisch untersucht, vorgefundene Krankheiten geheilt und Parasiten bekämpft. Die 12 Paare wurden zur Brut angesetzt und über den gesamten Zeitraum des Brutzyklus gehalten. Die Vögel erhielten eine Futtermischung ohne Rübsen, ein Eifutter der Firma Witte Molen, gekeimte Samen, Gurken und Salat. Zusätzlich wurde der Körnermischung 24 g/kg Korvimin ZVT + Reptil (WDT) zugesetzt. Insgesamt hatte dieses Futter einen Vitamin-A-Gehalt von 12.000 IE/kg.

Die Untersuchung zeigte, dass das angebotene Futter den Bedarf beider Gruppen deckte. Es gab weder bei den Eltern noch bei den Jungvögeln klinischen Anzeichen für einen Vitamin-A-Mangel bei den rezessivweißen Kanarienvögeln, und auch keine Anzeichen für eine Hypervitaminose A bei den farbigen Kanarienvögeln. Auch gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen der Körpergewichtsentwicklung der rezessivweißen und der farbigen Vögel.

Haltung und Fütterung

Die Untersuchung der Universität Leipzig von 2007 bestätigte die Erfahrungen der Züchter vollständig. Wer seine Vögel nur mit Körnerfutter und ab und zu etwas Grünes ernährt, wird mit rezessivweißen Kanarien auf längere Sicht keinen Erfolg haben. Aber welch ein Liebhaber und Züchter wird seinen Vögeln nicht das Beste geben wollen? Es liegt im eigenen Interesse, seine in Obhut genommenen Vögel so optimal wie möglich zu halten und zu ernähren.

Rezessivweiße Vögel, die optimal ernährt werden, bekommen keine körperlichen Schäden, sie haben keine Schmerzen und leiden nicht! Um jedoch sicherzugehen, dass sich nicht doch im Laufe der Zeit Krankheiten einstellen, muss darauf geachtet werden, dass ausreichend Vitamin A dem Futter zugesetzt wird. Entsprechende Präparate gibt es in jedem Futtermittelhandel und auch spezielles Eifutter für weiße Kanarienvögel.

Eine separate Unterbringung und Fütterung der rezessivweißen Kanarien ist nicht zwingend notwendig, wenn nicht andere Gründe – z. B. verschmutztes Gefieder durch Zusatzkost – dafürsprechen.

Immer wenn Tiere den Besitzer wechseln, muss dem neuen Besitzer mitgeteilt werden, welche Besonderheiten bei der Pflege und Fütterung zu beachten sind. Das muss eine Selbstverständlichkeit sein bzw. werden! Bei der Abgabe rezessivweißer bzw. rezessivweißgrundiger Vögel, ist darauf hinzuweisen, dass diesen Vögeln regelmäßig ein Vitamin-A-Präparat gegeben werden muss, die übliche Versorgung auf Dauer nicht ausreichend ist. Einen entsprechend formulierten Handzetteln – auch mit Angabe empfohlener Produkte – sollte dem neuen Besitzer übergeben werden.

Die Zucht rezessivweißer Kanarien

Im Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen)[5] wird für rezessivweiße Kanarien ein Zuchtverbot verlangt, da wissenschaftlich belegt sei, „dass bei Trägern des Defektgens … Organe für den artgemäßen Gebrauch untauglich sind …“. Dazu wird eine (!) Quelle angegeben.[6] Sonderbarerweise ist in dieser Quelle von festgestellten Organschäden, die nachweislich durch Vitamin-A-Mangel entstehen, nichts zu lesen. Außerdem gibt es in der aktuellen Literatur keinen Konsens über die empfohlene Menge an Vitamin A in der Nahrung für Kanarienvögel.

Es ist jedoch für das „Wissen“ der Gutachter bezeichnend, wenn sie schreiben, dass die Rezessivweißen im Gegensatz zu den Dominantweißen keine farbigen Abzeichen am „Flügelbug“ haben. Bekanntlich ist der „Flügelbug“ das Handgelenk und die Dominantweißen haben dort keine Lipochromfarbe, sondern Lipochrom an den Handschwingen!

Unter diesen Gesichtspunkten mutet es schon sehr erstaunlich an, dass aufgehellt rezessivweiße und rezessiv weißgrundige Kanarien, trotz ihres (vermeintlichen) Handikaps, sich ausgesprochen gut fortpflanzen. Die aufgehellt rezessivweißen Kanarien zählen körperlich zu den größten und voluminösesten Farbenkanarien. Deshalb stehen auf großen Bewertungsschauen, im Vergleich zu anderen Klassen, meist sehr viele rezessivweiße Kanarien.

Man kann die Rezessivweißen bzw. Rezessivweißgrundigen untereinander verpaaren, ohne dass es zu körperlichen Nachteilen bei den Nachkommen führt. Allerdings ist auf die Gefiedertextur zu achten, denn auch bei diesen Vögeln gibt es Intensive und Nichtintensive. Der Experte wird das anhand der äußeren Erscheinung feststellen können. Sicherer ist es, die Federn der Verpaarungspartner zu vergleichen. Dazu schiebt man ein Stück farbiges Papier unter eine Rückenfeder und kann so eine lange, breite Feder von einer schmalen, kurzen Feder unterscheiden. Wie bei anderen Kanarien auch, sollte man keine Vögel miteinander verpaaren, die die gleiche Federtextur besitzen. Die Nachkommen könnten sonst teilweise ein zu knappes oder ein zu voluminöses, und damit loses, Gefieder bekommen.

Aus der Verpaarung zweier rezessivweißer Kanarien entstehen zu 100 % rezessivweiße Nachkommen, gleichgültig, ob sie von gelb- oder rothaltigen Kanarien abstammen.

Die weiteren Verpaarungsmöglichkeiten wären:

Vererbung NSL rezessiv

Setzen Sie für „Normal“ Gelb oder Rot und für „Mutation“ Rezessivweiß ein

Die lipochromfarbigen Nachkommen aus den o. g. Verpaarungen sollen, nach Meinung einiger Züchter, nicht die Farbtiefe erreichen, wie man sie von reinerbigen lipochromfarbigen Vögeln kennt. Ob es sich bei diesen helleren Vögeln um die spalterbigen oder um die reinerbigen Nachkommen handelt, bedarf einer Überprüfung. Es wäre aber ein interessanter Aspekt, der auf eine nicht vollständige Rezessivität hindeuten würde.

Quellen

[1] Julius Henniger: Farbenkanarien – Ein Lehrbuch für Farbenkanarienzüchter, insbesondere über Farbenvererbung. Maximiliansau 1962.

[2] P. Wolf, T. Bartels, H.-P. Sallmann, K. Heisler, J. Kamphues: Rezessiv weiße Kanarien – Vögel mit Störungen im Vitamin A-Stoffwechsel? In: AZ-Nachrichten 11/1998.

[3] Matthew B. Toomey, Ricardo J. Lopes, Pedro M. Araújo, Miguel Carneiro: High-density lipoprotein receptor SCARB1 is required for carotenoid coloration in birds. University of Texas Southwestern Medical Center, Dallas, TX. Unter: https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1700751114

[4] S. E. Preuss, T. Bartels, V. Schmidt, M-E. Krautwald-Junghanns: Vitamin A requirements of alipochromatic (‘recessive-white’) and coloured canaries (Serinus canaria) during the breeding season. Clinic for Birds and Reptiles, University of Leipzig, 2007.
Unter: https://www.academia.edu/5991493/Vitamin_A_requirements_of_alipochromatic_recessive-white_and_coloured_canaries_Serinus_canaria_during_the_breeding_season

[5] Siehe: https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-paragraf11b.html

[6] G. M. Dorrestein, J. Schrijver: (1982): Een genetisch defect in de vitamine A huishouding van recessief witte kanaries. Tijdschr. Diergeneesk. 107, 795-799.

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