Veröffentlicht in „Freude mit der Kleintierzucht“ 8/2025 – Fachzeitschrift für Kaninchen, Meerschweinchen, Tauben, Geflügel, Ziergeflügel und Vögel
Als der Kanarienvogel nach Europa kam
Die Domestikation des Kanarengirlitzes (Serinus canaria) zum heutigen Kanarienvogel begann vor mehr als 500 Jahren. Um die Kulturgeschichte ranken sich viele Erzählungen, die so oder ähnlich immer wieder in der Literatur zu finden sind. Wir müssen heute davon ausgehen, dass viele Überlieferungen nicht exakt sind. Oft wurden durch Wiedererzählung nach Hörensagen die Tatsachen und Zeiträume verfälscht, Fantasie und Romantik in die Geschichten eingebaut. Es ist also kaum noch möglich, die wahren Begebenheiten der frühen Kulturgeschichte aufzudecken. Wir müssen uns heute mit den gesicherten Erkenntnissen begnügen und können bestenfalls daraus entsprechende Überlegungen anstellen.
Die Kanarischen Inseln, die Azoren und Madeira waren schon lange vor der Eroberung durch Portugiesen und Spanier bekannt, denn sie wurden bereits seit mehr als 5.000 Jahren von Menschen besiedelt. Frühe Hochkulturen und Seefahrernationen – wie die Phönizier – kannten alle drei Inselgruppen. Wie so Vieles, ging auch dieses antike Wissen im mittelalterlichen Europa verloren. Erst 1312 hat der genuesische Kaufmann und Seefahrer Lanceletto Malocello die Kanarischen Inseln für das damalige Europa wiederentdeckt.
Am 1. Mai 1402 stach der Spanier Jean de Béthencourt mit zwei Schiffen in See, um die Kanarischen Inseln für das kastilische Königshaus unter Heinrich III. zu erobern. Béthencourt soll dem französischen König Karl VI. einige Kanarengirlitze geschenkt haben, denn der Monarch interessierte sich für Jagdfalken, Brieftauben zur Nachrichtenübermittlung und auch für Singvögel.
Auch auf den Azoren und auf Madeira leben Kanarengirlitze, die sich nur unwesentlich von den Vögeln der Kanaren unterscheiden. Beide Inselgruppen wurden um 1430 von Portugiesen erobert und mit portugiesischen und flämischen Bauern besiedelt.
Wann genau die ersten Kanarengirlitze von den atlantischen Inseln nach Europa gelangten, bleibt also im Dunkeln der Geschichte. Es wird unbestritten sein, dass Seeleute, Seeräuber, Kaufleute oder Militärs so manchen Vogel mit nach Hause brachten, um sich an ihnen zu erfreuen, sie zu verkaufen oder zu verschenken.
Mit Segelschiffen ließen sich große Mengen an Waren schnell und unkompliziert transportieren. Zwischen den Häfen Spaniens, Portugals, Englands, Frankreichs, den Niederlanden und den Stadtstaaten Norditaliens herrschte ein reger Warenverkehr. Die ersten exportierten Vögel sind sicherlich auf den Seewegen zuerst in diese europäischen Küstenländer gelangt. Um die Verbreitung der ersten Kanarengirlitze – oder waren es schon domestizierte Kanarienvögel? – rankt sich eine weitere bildhafte Legende:
Zwischen 1573 und 1645 (je nach Autor), so wird behauptet, geriet ein spanischer Segler auf der Reise nach Livorno in einen schweren Sturm. Das Schiff hatte eine größere Menge Kanarienvogelmännchen an Bord, die sich nach dem Schiffbruch auf die nahe gelegene Insel Elba retten konnten. Dort verpaarten sie sich mit dem heimischen europäischen Girlitz (Serinus serinus). Mit diesen Hybriden sollen die Italiener ihre eigene Kanarienzucht begonnen haben. [1]
Wie es auch immer gewesen sein mag, berichtet wird, dass es in den Häusern reicher Bürger und an den Fürstenhöfen Europas schnell Mode wurde, die wertvollen Kanarienvögel zu besitzen. Sie wurden in goldenen Käfigen des Gesanges wegen gehalten. In manch einer Gartenanlage waren die reich verzierten Kanarien-Volieren die Hauptattraktion. Selbst die englische Königin Elisabeth I. (1533 bis 1603) soll sich an dem Gesang erfreut haben. [3]
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass die Kanarienvögel bereits wesentlich früher in andere Regionen Europas gelangten. Anderen Hinweisen zufolge wurden Kanarienvögel bereits in dieser Zeit in Frankreich, Holland und Tirol, aber auch in der Türkei, Ägypten und Russland gehandelt.
Die Kanarienvögel und der Bergbau
Die Gegend von Imst zählte neben Kitzbühel und Schwaz zu den bedeutendsten Bergbaugebieten Nordtirols. In der Zeit zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert gab es in Tirol eine Vielzahl von Silber-, Zink- und Bleibergwerken. In ganz Europa bekannt waren die Imster aber auch wegen des Vogelhandels (Züchtung und Verkauf von Kanarienvögeln), der zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt erlebte. So entwickelte sich um 1780 in Imst in Tirol mit der Kanarienzucht ein regelrechter Erwerbszweig.
Die Zeit des 18. Jahrhunderts war vom wirtschaftlichen Niedergang geprägt: Der schwindende Bergsegen und die, aufgrund der Realteilung, verarmten Bauern ließen den einstigen Imster Wohlstand verblassen. 1821 kam es zu einer großen Katastrophe: Eine Feuersbrunst, ausgelöst bei der Seifenerzeugung, vernichtet 206 von den insgesamt 220 Häusern.[4] Die Bergleute wanderten in andere Bergbauregionen ab (Saarland, Ruhrgebiet, Fichtelgebirge, Schlesien, Erzgebirge, Harz). Auch in der neuen Heimat widmeten sich die Bergleute der Kanarienzucht. Nicht nur des Gesanges wegen, sondern auch zur Aufbesserung ihres Einkommens, denn mit dem Verkauf von Kanarien öffnete sich eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit.
Die Bergleute nahmen Kanarienvögel mit in die Tiefen der damals primitiven und gefährlichen Bergwerke. Diese kleinen Vögel reagieren empfindlich auf akuten Sauerstoffmangel, bedingt durch Austritt von Kohlenmonoxid, und zeigten so den Bergmännern eine drohende Gefahr an, vor der sie sich dann rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.
Bereits der Transport der Vögel nach unter Tage war keine leichte Aufgabe. Beim Ab- und Aufstieg in die Gruben und Schächte hatte man im wahrsten Sinne des Wortes „alle Hände voll zu tun“. Mit einer Hand musste man sich an der Leiter oder Fahrkunst festhalten, die andere Hand trug die Öllampe. Also musste man kleine Vogelkäfige bauen, die von den Bergleuten unter die Achsel geklemmt werden konnten. Diese „Achselkäfige“ waren demnach sehr klein und boten dem Vogel nur sehr wenig Platz.
Um 1740 sind Tiroler Bergleute mit ihren Kanarienvögeln in die Bergbauregionen des Harzes gelangt. Vor allem die Kanarienzüchter des kleinen Ortes Sankt Andreasberg haben dort eine neue Hochburg der Kanarienvogelzucht entwickelt.
Zunächst wurde der Kanarienvogel in großer Anzahl gezüchtet, ohne die gesangliche Qualität besonders zu berücksichtigen. Schnell erkannte man, dass für ein Kanarienmännchen mit rollenden Gesangstouren in tiefer Tonlage ein höherer Preis erzielt werden konnte, weil er offensichtlich für das menschliche Ohr angenehmer klang. Auf die rollenden Touren des Gesangs wurde immer mehr Wert gelegt und durch züchterischen Fleiß, Ausdauer und Geschick die Voraussetzungen für die Zucht des Gesangskanarienvogels geschaffen.
Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts boomte das Geschäft mit den Vögeln. Über 350 Familien in Sankt Andreasberg und in anderen Gebieten des Harzes züchteten die kleinen gelben Sänger. Besonders der in Sankt Andreasberg ansässige Bergmann Wilhelm Trute (1836 bis 1889) hat es verstanden, als Erster den ursprünglichen Wildgesang der Landkanarien in langwieriger züchterischer Arbeit zu kultivieren.[5]
Die „Harzer Edelroller“ traten ihren Siegeszug über die ganze Welt an. Tausende von Kanarienvögeln wurden vom Harz in andere Gegenden Deutschlands verkauft, aber auch immer mehr und in großen Stückzahlen ins Ausland. Der Tierhändler Carl Reiche (1827 bis 1885) berichtet, dass allein 1873 ca. 130.000 Kanarienmännchen exportiert wurden. 1882 sollen es mehr als 290.000 Kanarienvögel gewesen sein. Es entstanden Vertriebsgesellschaften, die sich darauf spezialisiert hatten, den Sänger nach den USA, Südamerika, Südafrika, Japan, Australien und sogar China zu exportieren. Im Jahre 1866 wurde in St. Petersburg in Russland eine Verkaufszentrale eingerichtet, in der nur Harzer Roller verkauft wurden.[6]
Quellen
[1] Aschenbrenner, A. H.: Der Farben- und Gestaltskanarienvogel. Creutzsche Verlagsbuchhandlung. Magdeburg.
[2] Universität von Amsterdam; Bijzondere Collecties, Artis Bibliotheek; Iconographia Zoologica: een papieren dierenrijk. Unter: https://resolver.kb.nl/resolve?urn=urn:gvn:UBA01:IZ16000055-D02 [abgerufen: 01.07.2025]
[3] Leliefre, G.: De Kanarie door den Eeuwen. In: De witte Spreeuwen. Januar / Oktober 1980.
[4] Fritz, M.: Geschichte Tirol. Unter: https://geschichte-tirol.com/orte/nordtirol/bezrik-imst/628-imst.html [abgerufen: 01.07.2025]
[5] Nagels, R.: Die Kanarienzucht in St. Andreasberg. Nach Aufzeichnungen von Herrn Pape, einem Andreasberger Kanarienzüchter, aus dem Jahr 1925. In „Der Kanarienfreund“ 1988, Heft 2, Seite 33 bis 37.
[6] Schneider, B.: Als die Wellensittiche nach Europa kamen. Auf den Spuren von Karl Ruß und Karl Neunzig – ein Streifzug durch 100 Jahre Geschichte der Vogelliebhaberei. Eigenverlag 2005. ISBN 3-00-014787-X. Siehe auch unter: http://www.russundneunzig.de.