11. Oktober 2024

Aus der Forschung

veröffentlicht in AZ-Vogelinfo 7/2020 und Der Vogelfreund11/2018

Die genetischen Grundlagen der Rotfärbung bei Vögeln

Beim Stöbern in der wissenschaftlichen Literatur stieß ich auf die Studien zweier Forschergruppen, die ihre Ergebnisse im Mai 2016 veröffentlichten. Diese Forscher beschäftigten sich mit den genetischen Grundlagen der roten Gefiederfarbe der Vögel. Es war offenbar naheliegend, den roten Kapuzenzeisig, rote und gelbe Kanarien als Forschungsobjekte zu verwenden. Die Forschungsberichte möchte ich hier in gekürzter – und hoffentlich verständlicher – Form darlegen.

Die Einkreuzung des Kapuzenzeisigs

Kapuzenzeisig
Kapuzenzeisig, Männchen

Die erste Kreuzung zwischen dem roten Kapuzenzeisig (Spinus cucullatus) und dem gelben domestizierten Kanarengirlitz (Serinus canaria f. domestica) erfolgte in den 1920er Jahren. Durch die so erzeugten Hybriden konnte das Rot des Kapuzenzeisigs in die damals nur gelben Kanarienvögel übertragen werden. Seither ist diese ständig wiederholte Verpaarung zu einer anerkannten Praxis unter den Kanarienzüchtern geworden.[i]

Die gelben und roten Farbstoffe – wir Züchter nennen sie Lipochrome oder Fettfarben – in den Federn vieler Vogelarten spielen eine wichtige Rolle im Sozialverhalten. Um die rote Farbe in den Federn zu erzeugen, wandeln die Vögel – die mit der Nahrung aufgenommenen – sauerstofflosen gelben Carotinoide durch eine oxidative Enzym-Reaktion in sauerstoffhaltige rote Carotinoide um.[i]

Genomsequenzen werden ermittelt

Zwei Forscherteams haben, unabhängig voneinander, ein Gen-kodiertes Enzym bei Vögeln identifiziert, das die gelben Nahrungs-Carotinoide in rote Gefieder-Farbstoffe umwandelt.

In dieser Studie verglich das erste Forscherteam[i] ganze Genomsequenzen von gelben und roten Kanarienvögeln und wildfarbigen Kapuzenzeisigen, um den Ort und die Identität der Gene zu finden, die für die rote Farbe der Kanarienvögel verantwortlich sind. Bei roten Kanarien fanden sie zwei spezifische DNA-Regionen – eine auf Chromosom 8 und eine andere auf Chromosom 25 – die beide identisch mit der Kapuzenzeisig-DNA sind.

Grafik 1
Grafik 1: Ricardo J. Lopes, James D. Johnson, and Matthew B. Toomey, et al., Current Biology (2016)

Insgesamt identifizierten die Forscher auf dem Chromosom 8 fünf Gene (FGGY, HOOK1, CYP2J19, CYP2J40, NFIA[i]). Ihre Ergebnisse wiesen direkt auf das Gen CYP2J19 hin, dass das farbige Enzym (Cytochrom) P450 entwickeln lässt.

Als die Wissenschaftler die phänotypischen Auswirkungen dieses Enzyms in Haut- und Lebergeweben von gelb- und rotfaktorigen Kanarien untersuchten, stellten sie fest, dass es in den Geweben der Leber und der Haut der roten Kanarien um das 1000-fache hochreguliert ist. Das deutet darauf hin, dass dieses Enzym die Quelle zur Entwicklung der roten Lipochrome ist. Das CYP2J19-Gen ist auch an der Synthese von roten Carotinoiden in der Netzhaut der Augen beteiligt.

Der auf Chromosom 25 liegende Genkomplex EDC (mit den identifizierten Genen EDMY1, EDbeta, EDMTFH, EDMTF4, EDMPN-L, EDMTF2 4) kodiert Enzyme, die u. a. an der Differenzierung der Keratinzellen (Keratinozyten) beteiligt sind.

Lipochromsynthese
Grafik 2: Schematische Darstellung der Entwicklung vom gelben zum roten Lipochrom nach N. Schramm
Grafik 3
Grafik 3: Nicholas I. Mundy and Jessica Stapley et al, Current Biology (2016)

Das zweite Team untersuchte die Gene von domestizierten rotschnäbligen und gelbschnäbligen ZebrafinkenZebrafinken (Taeniopygia guttata).[8] Die Studie war das Ergebnis einer Zusammenarbeit zweier Forschergruppen. Eine Gruppe stand unter der Leitung des Evolutionsgenetikers Nicholas Mundy, die andere Gruppe unter der Leitung der Biologin Jessica Stapley. Diese beiden Gruppen arbeiteten zusammen, um die Gene von domestizierten Zebrafinken zu untersuchen.

Der bekannte Timothy Birkhead, Professor an der Universität von Sheffield, war einer der Mitautoren dieser Zebrafinken-Studie. Er ist der Autor eines populären Buches, das die faszinierende Geschichte der Entwicklung des roten Kanarienvogels erzählt. [ii]

Die Untersuchungen und der Vergleich der Gene zwischen den gelb- und rotschnäbligen Zebrafinken wiesen die Forscher ebenfalls auf das Chromosom 8 hin, wo mehrere Gene liegen (s. o.). Eine nähere Untersuchung zeigte, dass diese Gene im Genom des Wildtyp-Zebrafinken intakt sind, aber beim gelbschnäbligen Zebrafinken entweder beschädigt sind oder ganz fehlen. Weitere Untersuchungen ergaben, dass auch bei rotschnäbligen Zebrafinken das CYP2J19-Gen die Quelle roter Pigmentierung ist.

Meinungen anderer Wissenschaftler

Hier einige Aussagen der beteiligten Wissenschaftler zur Bedeutung dieser Entdeckungen:

„Da die meisten Vögel das CYP2J19-„Rotgen“ besitzen, sogar diejenigen, die kein rotes Gefieder haben, weist dies darauf hin, dass dieses Gen eine universellere biologische Rolle spielt als nur das Erzeugen roter Farbstoffe.“

Zebrafink
Rotschnäbliger Zebrafink Maske Grau

„Diese Ergebnisse legen nahe, dass fast alle Vögel die latente Fähigkeit haben, rote Federn zu bilden, aber um dies tatsächlich zu tun, müssen sie die Mittel zur Expression dieses Gens in der Haut zusätzlich zur Netzhaut entwickeln.“

„Das „Rotgen“ ist neben der Bildung von Rotpigmenten und der Verbesserung des Farbsehens ein Mitglied der enormen Enzymfamilie Cytochrom P450. Diese Enzyme sind wichtig, weil einige von ihnen eine Vielzahl von toxischen Verbindungen, hauptsächlich in der Leber, abbauen. Eine Anzahl der Cytochrom-P450-Enzyme ist beim Menschen gut untersucht, da sie mit dem Metabolismus von Arzneimitteln in Verbindung stehen.“

Bedeutung der Forschungsergebnisse für Vogelzüchter

Was bedeuten diese Forschungsergebnisse für uns Vogelzüchter?

Zumindest bei drei Vogelarten (Kanarienvogel, Kapuzenzeisig, Zebrafink) liegen die für eine Rotfärbung verantwortlichen Gene auf den gleichen Chromosomen – d. h. die Genorte (Loci) sind bei allen drei Arten gleich!

Ob Gelb, Gelborange, Orange, Rotorange oder Rot ausgebildet wird, ist auf die vorhandene kleinere bis größere Menge des Enzyms P450 zurückzuführen!

In der Kanarienliteratur wird immer noch auf die Erkenntnisse von H. Dunker[i] und J. Hennigers[ii] zurückgegriffen. Henniger hatte in den meisten Fällen seiner Vererbungslehre recht, nicht jedoch in Bezug auf die Vererbung von Rot und Gelb. Er und alle späteren Autoren ging davon aus, dass ein zusätzliches „Rotgen“ in die Kanarienvögel übertragen wurde. Die aus dieser Überlegung hervorgegangenen Erbformeln konnten in der Zuchtpraxis nicht bestätigt werden. Damit sind auch die heute immer noch in der Preisrichterausbildung gelehrten 18 Vogelfarben nach Henniger falsch!

Spätere Erkenntnisse und theoretische Überlegungen, z. B. 1962 von O. Völker[iii], 1983 von H. Brandsch[iv] oder 2005 von N. Schramm[v] [vi] fanden keine Beachtung in der theoretischen Kanarienzucht. Auch andere erforschte Mechanismen der Genetik (Triplett-Sequenzen, Deletion u. a.) haben keinen Eingang in die Theorie der Kanarienzucht gefunden.

Gerade letztgenannte Erkenntnisse erklären die Möglichkeit unfruchtbarer oder fruchtbarer Nachkommen aus Kreuzungen verschiedener Arten. Fruchtbare Mischlinge können nur entstehen, wenn sich die Genorte – und die dort enthaltenen Basensequenzen – beider Arten weitgehend ähneln. Ansonsten kommt es zum Verlust von Chromosomenteilen (Deletion). Dieser Verlust führt entweder zu keinen lebensfähigen oder bestenfalls zu unfruchtbaren Nachkommen. Da jedoch aus der Kreuzung Kapuzenzeisig mit Kanarienvogel fruchtbare männliche Nachkommen entstanden, müssen sich die Gene beider Arten weitgehend ähneln, den gleichen Plätze auf den Chromosomen einnehmen.

Bisherge Lehren sind überholt

Bisher ging man also davon aus, dass es bei Kanarien zwei verschiedene, voneinander unabhängige, Gene für die Lipochrombildung gibt – ein Gen für Gelb und ein Gen für Rot. Diese beiden unabhängigen Gene sollen sich zueinander intermediär verhalten. Wie oben dargelegt, ist es jedoch schon lange bekannt, dass – in Bezug auf die theoretisch erzielbaren vollweißen und spalterbigen Vögel – die Erbformeln nicht der Praxis entsprechen. Auch ganz simple Überlegungen, dass es von Gelb bis Rot eine Vielzahl farblich fließender Übergänge gibt, und dass dies auf einen quantitativen Erbgang hindeutet, wurden nicht angestellt.

Versuche, diesen Widerspruch zu lösen, gab es in der Vergangenheit durchaus, wurden aber nicht weiter beachtet. Mit den vorliegenden Forschungsergebnissen wurden die früheren theoretischen Überlegungen nunmehr bestätigt.

Praktische Anwendung der neuen Erkenntnisse

Wie wir wissen, steuern Gene die Produktion bestimmter Enzyme. Diese Enzyme wiederum lösen die Produktion bestimmter Stoffe aus. Im hier zu betrachtenden Fall steuert das Gen CYP2J19 die Produktion des Enzyms P450. Wenig erzeugtes Enzym P450 ergibt gelbes Lipochrom, viel Enzym P450 ergibt rotes Lipochrom. Ein und dasselbe Gen (CYP2J19) steuert also, welche Lipochromfarbe der Vogel ausbilden kann (Gelb … Rot). Wieviel Enzym P450 erzeugt wird, hängt demnach von der Expressivität des Gens CYP2J19 ab. Mit Expressivität wird in der Genetik der Ausprägungsgrad eines phänotypischen Merkmales bezeichnet.

Wie können wir diese Erkenntnis für unsere praktische Zucht umsetzen? Wie können wir künftig die Nachkommen berechnen, wenn die Elternvögel unterschiedliche Lipochromfarben besitzen?

Zuerst einmal können wir das Gen, das die Wissenschaftler kompliziert „CYP2J19“ nannten, für unsere Bedürfnisse anders benennen. Ich schlage dafür die Bezeichnung „L“ vor. Das L steht für die allgemeine Lipochromsynthese. Wenn „L“ nur Gelb produzieren lässt, können wir das Gen mit „LG“ bezeichnen. Wird durch „L“ aber auch Rot synthetisiert, nennen wir es „LR“.

Gene können gedimmt werden

Manch ein Praktiker würde nun entgegenhalten, dass dies nicht sein kann, da es dann nur drei Farben geben würde: Gelb (LG LG), Orange (LG LR) und Rot (LR LR). Ja, wenn man das bisher gewohnte simple System unserer Erbformel verwendet, wäre es so. Aber leider sind die genetischen Abläufe etwas komplizierter und vielfältiger, als wir Vogelzüchter es gerne hätten. Gene funktionieren eben nur sehr selten als Ein-Aus-Schalter, sind vorhanden oder nicht vorhanden. Gene können auch „gedimmt“ werden, womit wir wieder bei der Gen-Expressivität wären.

Wie kann man diese unterschiedliche Gen-Ausprägung trotzdem in Erbformeln darstellen?

Da das Enzym P450 mehrfach bis vielfach erzeugt wird, müssen wir diesen Vorgang auch darstellen. Da das Enzym mit seinem Gen LG mehrmals in die Umbauvorgänge zum körpereigenen gelben Kanarien-Xanthophyll eingreift, könnte man diese Teilprozesse als LGLGLG … bezeichnen. Bei Rot wären es wesentlich mehr – LRLRLRLRLRLR… Wenn wir uns in unserer Betrachtung auf jeweils zwei Teilprozesse beschränken, können wir diese als LGLG bzw. LRLR bezeichnen.

Verpaaren wir einen reinerbig gelben Vogel mit einem reinerbig roten Vogel haben die orangefarbenen Nachkommen die Allele LG LR / LG LR oder LG LG / LR LR.

Die vollständige Verpaarungstabelle stellt sich dann wie folgt dar:

Das Prinzip und den Werdegang zu obiger Tabelle habe ich schon mehrmals veröffentlicht. Kritiker meinen: stimmt aber auch nicht! Denen muss ich entgegenhalten, dass es für die Anwendung/Ablesung der Verpaarungsergebnisse wichtig ist zu wissen, welche genetischen Eigenschaften der gelbe oder rote Vogel tatsächlich hat. Keiner wird das mit absoluter Sicherheit sagen können (außer bei reinen Gesangskanarien, die reinerbig in Gelb sind). Auch ein noch so roter (rotgefärbter) Vogel wird einen Gelbanteil als Erbe des Kapuzenzeisigs besitzen.7 Wie hoch dieser Gelbanteil ist, weiß keiner! Wir können leider den Phänotyp nicht mit dem Genotyp gleichsetzen! Beim Verpaarungspartner – gleich welcher Lipochromfarbe – ist das genauso. Außerdem kann die Farbnuancierung auch noch durch die unterschiedliche Aufnahme und Verwertung des Futters hervorgerufen werden. Wie exakt kann dann das theoretisch errechnete Ergebnis sein?

Trotz dieser Unsicherheiten können wir heute – auch dank der neueren Wissenschaft – die Gelb-Rot-Vererbung ohne „Spaltvögel“ und „Vollweiße“ erklären.

Mit Hilfe all dieser Erkenntnisse sollte es möglich sein, den Genotyp und den Phänotyp durch züchterische Auslese aneinander anzugleichen. Leider hat solch eine genetische Selektion früherer Jahre einen schweren Schlag erlitten, da synthetische Farbstoffe zuerst in Rot und leider jetzt auch in Gelb verwendet werden. Diese Farbstoffe erlauben es, den Phänotyp kurzfristig zu verändern. Es ist leider leicht vorstellbar, welchen Weg die meisten Züchter mit Ausstellungszielen nehmen: den kürzesten!

Quellen und Literatur

[1] Birkhead, T.: A Brand-New Bird: How Two Amateur Scientists Created the First Genetically Engineered Animal. Basic Books, 2003.

[1] Carotinoide sind von Bakterien, Algen und Pflanzen synthetisierte Farbstoffe. Mehr als 600 sind bekannt und werden unterteilt in Carotine (ohne Sauerstoff) und Xanthophylle (mit Sauerstoff).

[1] Lopes, R.; Johnson, J.; Toomey, M.; Ferreira, M.; Araujo, P.; Melo-Ferreira, J.; Andersson, L.; Hill, G.; Corbo, J.; Carneiro, M.: Genetic Basis for Red Coloration in Birds. Current Biology, 26, published online ahead of print on 19 May 2016 | doi:10.1016/j.cub.2016.03.076

[1] Baldanzi, M.: La base genetica del colore rosso negli uccelli. Italia ornitologica 2017_2_Art_3.

[1] Mundy, N.; Stapley, J.; Bennison, C.; Tucker, R.; Twyman, H.; Kang-Wook Kim; Burke, T.; Birkhead, T.; Andersson, S.; Slate, J.: Red Ketocarotenoid Pigmentation in the Zebra Finch Is Controlled by a Cytochrome P450 Gene Cluster. Current Biology, 26, published online ahead of print on 19 May 2016| doi: 10.1016/j.cub.2016.04.047

[1] Birkhead, T.: The Red Canary. Bloomsbury Publishing, New York, 2003.

[1] Dunker, H.: Genetik der Kanarienvögel. Verlag Martinus Nijhoff, `s Gravenhage 1928.

[1] Henniger, J.: Farbenkanarien. Ein Lehrbuch für Farbenkanarienzüchter insbesondere über Farbenvererbung. Maximiliansau 1962.

[1] Völker, O.: Experimentelle Untersuchungen zur Frage der Entstehung roter Lipochrome in Vogelfedern; Farbfütterungsversuche am Roten Kanarienvogel. In: Journal für Ornithologie 1962.

[1] Brandsch, H.: Genetische Grundlagen der Tierzüchtung. VEB Gustav Fischer Verlag Jena 1983.

[1] Schramm, N.: Die Vererbung gelber und roter Lipochrome. In: Der Vogelfreund 58, S. 223 – 225, 2005.

[1] Schramm, N.: Carotinoide – wichtige Stoffe für den Vitamin-A-Haushalt und für die Lipochromentwicklung. In: Der Vogelfreund 58, S. 56 – 59, 2005.

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