11. Oktober 2024

Der Ursprung des Lizard-Kanarienvogels

veröffentlicht in der VZE-Vogelwelt April 2021
Der Vogelfreund“ 8/2024

Über den Ursprung der Lizardkanarien rankt sich eine immer wieder zu lesende Legende: Die verfolgten Hugenotten Frankreichs flüchteten nach England und nahmen ihre Lizardkanarien – oder zumindest ihre Vorläufer – mit in die neue Heimat. In allen Büchern, Artikeln und im Internet wird man diese Geschichte als „Tatsache“ wiederfinden. Diese Legende wurde so zahlreich wiederholt, dass sie einfach wahr sein muss! Aber ist sie es?

Wenn man sich etwas tiefgründiger mit der Geschichte Frankreichs, der Hugenottenverfolgung und der Kanarienliteratur damaliger Zeiten beschäftigt, kommen einige Zweifel am Wahrheitsgehalt der Legende auf.

Die Hugenottenverfolgung

Als Hugenotten werden seit etwa 1560 die französischen Protestanten bezeichnet, deren Glaube von der Lehre des Johannes Calvin (1509 bis 1564) beeinflusst war. Wie andere Reformationslehren lehnte auch der Calvinismus die Kulthandlungen der katholischen Kirche mit ihren Sakramenten, Reliquien und Ablasshandel ab. Dies stieß auf den erbitterten Widerstand des etablierten katholischen Klerus und des Adels. Ab 1530 wurde die Glaubensausübung der Protestanten stark unterdrückt.

Die Bevölkerung Frankreichs bestand damals aus rund 20 Millionen Katholiken und fast 800.000 Protestanten.[1] Obwohl die Hugenotten demnach nur etwa 4 % der Bevölkerung ausmachten, haben sich einige Fürsten dieser neuen Bewegung angeschlossen. Sicherlich nicht immer nur des Glaubens wegen, sondern auch um Macht und Einfluss zu gewinnen und auszuweiten. Deshalb kam es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Diese Bürgerkriege – die 36 Jahre andauerten (von 1562 bis 1598) – sind als die acht Hugenottenkriege in die Geschichte eingegangen. Ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen war das Massaker an etwa dreitausend Pariser Hugenotten (Bartholomäusnacht vom 23. zum 24 August 1572). Es folgte eine Welle gegenseitiger Gewalt, die sich über fast ganz Frankreich ausbreitete und zwischen 10.000 und 30.000 Opfer forderte.[2]

Bartholomäusnacht
Paris während der Bartholomäusnacht, zeitgenössisches Gemälde von François Dubois

Erst am 13. April 1598 unterzeichnete in Nantes König Heinrich IV. (1553 bis 1610) ein Edikt und gewährte darin den Hugenotten religiöse Toleranz ohne wirkliche Gleichstellung und volle Bürgerrechte. Staatsreligion blieb jedoch der Katholizismus.

Mit dem Gnadenedikt von Alès im Jahr 1629 durch Kardinal Richelieu (1585 bis 1642) wurden alle zuvor den Hugenotten zugestandenen Sicherheiten aufgehoben und die Existenz der Protestanten lediglich gnädig geduldet. Ziel der katholischen Adelspartei war es, die Hugenotten mindestens von den staatlichen und kirchlichen Pfründen auszuschließen und zugleich das Königtum zu kontrollieren.

Der „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. (1638 bis 1715) war Katholik und glaubte an das Gottesgnadentum seiner Macht. Als absolutistischer König konnte er andere Meinungen als die eigene nicht tolerieren. Deshalb widerrief er am 18. Oktober 1685 im Edikt von Fontainebleau die Edikte seiner Vorgänger. Unter Androhung schwerster Strafen verbot er protestantische Gottesdienste und befahl die Zerstörung aller protestantischen Kirchen, ihre Schulen wurden geschlossen und die Kinder zwangsweise im katholischen Katechismus unterrichtet. Die Hugenotten verloren ihre bürgerlichen Rechte, konnten z. B. ohne Erlaubnis keine Ehen eingehen, öffentliche Ämter wurden ihnen verweigert, sie durften kein Eigentum erwerben und waren somit in ihrer Geschäftstätigkeit eingeschränkt. Diese Aktionen wurden von der katholischen Mehrheit unterstützt. Sie hatte nur wenig Sympathie gegenüber den Hugenotten, die sie als „zu reich, erfolgreich und klüngelhaft“ ansahen.[3] [4]

Erst das Versailler Toleranzedikt von unter König Ludwig XVI. (1754 bis 1793) im Jahr 1787 beendeten die religiöse Verfolgung und stellten die volle Religionsfreiheit für die Protestanten in Frankreich her.

Die Flucht der Hugenotten

Für die Protestanten gab es nur drei Möglichkeiten: sie konnten ihrem Glauben abschwören, oder weiterhin unter den Unterdrückungsmaßnahmen leiden, oder sie versuchten zu fliehen. Eine Flucht war jedoch verboten. Da die Grenzen geschlossen, die Häfen und Küsten bewacht wurden, führten die möglichen Fluchtwege nur über versteckte Wege, abgelegene Bergpässe oder über einen heimlichen nächtlichen Zugang zu einem Schiff. Ortskundige Führer und mutige/korrupte Schiffskapitäne haben sicherlich gut daran verdient. Belohnt wurden auch die Patrouillen, Spione und Informanten, wenn sie den Behörden halfen, hugenottische Emigranten zu fangen.

Emigration der Hugenotten 1566; Gemälde von Jan Antoon Neuhuys

Die Strafen für Hugenotten, die versuchten auszuwandern, waren hart: Männer wurden auf Galeeren, Frauen in Klöster geschickt und ihre Kinder als Katholiken erzogen. Außerdem wurde ihr Eigentum konfisziert.

Auch ausgehend von den aktuellen Flüchtlingsbewegungen neigen wir dazu zu denken, dass die Hugenotten als mittellose Massen um ihr Leben rannten und aus Frankreich flüchteten. Wenn es so gewesen wäre, wären die Kanarienvögel das Letzte, was sie auf ihrer gefährlichen Flucht mitgeschleppt hätten. Die Kanarienkäfige und das notwendig mitzuführende Futter wäre eine zu große Belastung gewesen. Das Bild vom verzweifelten Flüchtling, der an Bord eines Schiffes bei stürmischer See den Ärmelkanal überquert und seinen Käfig mit (Lizard)Kanarienvögel fest umklammert, hat eine romantische Anziehungskraft, ist aber sicher ein Mythos.

Nach einer geglückten Flucht und Ankunft in einem fremden Land, deren Sprache sie nicht verstanden und sprachen, musste zuerst das eigene Überleben gesichert werden. Es galt Nahrung, Unterkunft und Arbeit zu finden, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die Haltung und Zucht der Kanarienvögel wären erst nach Erfüllung der eigenen Grundbedürfnisse möglich gewesen.

Über die lange Zeit der Hugenottenverfolgung hatte sich aber auch ein gut organisiertes Netz von protestantischen Sympathisanten im Ausland etabliert, das die Emigration koordinierte. So gab es ortskundige Führer und auf den Fluchtwegen eine Kette „sichere Häuser“ für die notwendige Rast. Viele Hugenotten hatten Familienverbindungen im Ausland. Es waren die Nachkommen der ersten Welle von Emigranten, die Frankreich nach der Bartholomäusnacht ein Jahrhundert früher verlassen hatten. Manche Flüchtlinge pflegten Geschäftsverbindungen durch Handel und Finanzen. Die Hugenotten konnten sich in den Nachbarstaaten auch auf die Unterstützung der dortigen Protestanten verlassen. Die Flüchtlinge wurden von ihnen als Märtyrer dargestellt, als lebender Beweis für die Unterdrückung durch das Papsttum.

Empfang_der_Refugies
Empfang der Refugies (Hugenotten) durch den Großen Kurfürsten im Potsdamer Schloss; Gemälde von Hugo Vogel.

Aus der Geschichte Berlins und Brandenburgs wissen wir, das allein dorthin annähernd 15 – 20.000 Hugenotten aufgenommen wurden. Es waren zumeist erfahrene Landwirte, Gärtner und Handwerker; Spezialisten, die auch in Frankreich schon zur Elite ihrer Berufsgruppen gehörten. Durch das 1685 vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620 bis 1688) erlassene Edikt von Potsdam, wurde den Flüchtlingen großzügige Privilegien gewährt: zeitweilige Steuerbefreiung, kostenlose Mitgliedschaft in den Zünften, die Verleihung des Bürgerrechts, Anschubfinanzierung für gewerbliche Existenzgründungen, Grundstücke und kostenloses Baumaterial. Dies führte zu einem Aufschwung im Handwerk, der Industrie und auch der Armee.

Allein im 17. Jahrhundert wanderten etwa 200.000 Hugenotten aus. Ihre neue Heimat fanden sie in der Schweiz, den Vereinigten Niederlanden, in deutschen und skandinavischen Ländern, in Russland, Südafrika und Nordamerika. Ein Großteil der Auswanderer (ca. 50.000) emigrierte erst nach 1687 nach England, da zuvor auch dort religiöse Machtkämpfe zwischen Katholiken und der anglikanischen Kirche stattfanden.[5]

In den meisten Exilländern fanden die Hugenotten, die zur leistungsfähigen Schicht gehörten, bereitwillig Aufnahme. Ihnen wurden weitreichende Privilegien eingeräumt, was in der einheimischen Bevölkerung aber auch auf Unverständnis stieß und zu Neid und Anfeindungen führte.

Die Hugenotten und die Kanarienvögel

Wir wissen heute nicht, wie viele Bürger Frankreichs sich damals mit der Kanarienzucht beschäftigt haben. Heutige Maßstäbe können wir nicht anwenden. Auch wenn die Kanarienzucht im 16. und 17. Jahrhundert in den meisten europäischen Ländern deutlich beliebter gewesen sein sollte, als es heute der Fall ist, wird sich nur ein sehr geringer Teil der katholischen und protestantischen Bevölkerung damit beschäftigt haben.

Mit Sicherheit haben nicht nur Hugenotten Kanarienvögel gezüchtet. Da die Hugenotten aber nur etwa 4 % der Gesamtbevölkerung bildeten, muss die reale Anzahl der „hugenottischen“ Kanarienzuchten zwangsläufig sehr gering gewesen sein. Von diesen Züchtern wiederum wird sich ein Teil mit der Zucht anderer Kanarienrassen (Gesangs- und Positurkanarien) beschäftigt haben. Der verbleibende Anteil an Züchtern, die sich mit der Zucht der Lizardkanarien (oder deren Vorläufern) befasst haben, muss demnach noch sehr viel geringer gewesen sein.

Da wiederum nur ein Teil der Hugenotten emigrierte, verringert sich die Anzahl der geflüchteten Lizardzüchter, die ihre Vögel mitnahmen, noch einmal wesentlich. Ausgerechnet diese wenigen Züchter reisten – der Legende folgend – nach London. Nun, das kann ein Zufall sein. Oder es war nur ein Lizardzüchter, oder es haben sich mehrere, untereinander bekannte Züchter zu einer Fluchtgesellschaft zusammengetan, oder … Es sind alles Annahmen oder Spekulationen!

Der Lizard in der Naturforschung

Nachdenklich stimmt schon, dass in keinem anderen Land von lizardähnlichen Vögeln berichtet wird. Nicht aus Frankreich, wo der überwiegende Teil der katholischen und protestantischen Kanarienzüchter geblieben ist und auch nicht aus Holland oder aus Brandenburg, wo eine erhebliche Anzahl Hugenotten eine neue Heimat gefunden hat.

Nachdenklich stimmt auch, dass Ornithologen der damaligen Zeit keinen Hinweis auf die besonders augenfällige Spanglezeichnung der Kanarien gegeben haben.

Der Schweizer Naturforscher Conrad Gessner (1516 bis 1565) berichtete 1550, nach einer Studienreise in England, von schön singenden Kanarienvögeln, die dort weit verbreitet sind. Über Kanarien mit einer besonderen Färbung oder Zeichnung berichtete er nichts.

Die englischen Ornithologen Francis Willughby (1635 bis 1672) und John Ray (1627 bis 1705) berichteten von „German Birds“, die besonders gut sangen und zahlreich aus Deutschland auf die Insel kamen. Von französischen Vögeln schrieben sie nichts!

Der französische Naturforscher Jean-Claude Hervieux de Chanteloup (1683 bis 1747) veröffentlichte 1709 sein erstes Werk über die Zucht von Kanarienvögeln.[6] Darin führt er erst 10, später 29 unterscheidbare Kanarienfarben und Scheckungen im Detail auf. Eine spangleartige Zeichnung beschrieb er nicht (auch nicht in späteren Auflagen), obwohl sie ihm bei seinen Recherchen sicherlich aufgefallen wäre.

Selbstbildnis Johann Daniel Meyer. Kupferstich von Markus Tischer
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„Zweyerley Vorstellung des Kanarien-Vogel“ von J. D. Meyer. Rechts ein lizardähnlicher Vogel

Der Nürnberger Miniaturmaler, Kupferstecher, Kunsthändler und naturforschender Künstler Johann Daniel Meyer (1713 bis 1752) zeichnete in Band 1 seines Werkes[7] auch zwei Kanarienvögel, wobei einer eine hellere Kopfplatte und dunkle Tupfen auf dem Rücken besitzt. Offenbar hat Meyer bereits 1748 zumindest Kenntnis von solch einem lizardähnlichen Kanarienvogel besessen, um ihn zeichnen zu können.[8]

Auch ein weiterer französischer Naturforscher, Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707 bis 1788), bezieht sich 1786 im Band 7 seines Werkes[9] auf die Liste von Hervieux, lässt aber einen Farbschlag weg und fügt einen gehäubten Vogel an, weil dieser ihm so gut gefallen hat. Ein Lizard war ihm offenbar unbekannt oder er fand ihn nicht erwähnenswert.

bird fanciers 1762
Titelblatt vom zweiten Teil des Buches „The Bird Fancier´s Necessary Companion…“ von Publicola; 1762
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Bildtafel mit Lizardkanarien aus „The Illustrated Book of Canaries and Cage Birds“

Die älteste Erwähnung, die in Zusammenhang mit einem Lizardvogel stehen könnte, finden wir in dem Buch „The Bird Fancier´s Necessary Companion …[10] Das Manuskript schrieb der Autor unter dem Pseudonym Publicola im Jahr 1760. Dieses zweiteilige Werk behandelt im ersten Teil den Fang, Zucht, Haltung und Behandlung von Krankheiten der englischen Singvögel. Im zweiten Teil geht der Autor ausführlich auf die Zucht und Haltung der Kanarienvögel ein.

Auf Seite 10 des zweiten Teils beschreibt er eine fein geschuppte Sorte (Fine Spangled Sort), die die Franzosen „Jonquille“ nennen, weil sie mit einem leuchtenden Gelb durchsetzt ist. Dieser französische Name wiederum soll eine sehr schöne schwarz und gelb gestreifte Blume bezeichnen. Die Engländer nannten diese Vögel deshalb „Jonques“ oder französische Vögel. Allerdings ist die Narzisse (franz. Jonquille) zwar sehr oft kräftig gelb, aber besitzt niemals schwarze Streifen. Weiter schreibt Publicola, dass diese Vögel „vor ein paar Jahren“ aus Frankreich „hierher“ gebracht wurden und seitdem von den englischen Züchtern in Farbe und Schönheit verbessert wurden. Von vertriebenen Hugenotten findet sich in dem gesamten Werk nicht ein einziger Hinweis!

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Bericht in der „London Illustrated News“ vom 12. Dezember 1846

Die älteste bekannte Veröffentlichung, in der der Lizard mit diesem Namen erwähnt wird, ist „The British Aviary and Bird Breeders Companion“ von 1825.[11]

Eine der frühesten Abbildung eines Lizards und der legendären London Fancys findet sich in einem Bericht in der „London Illustrated News“ vom 12. Dezember 1846, die über die „Annual Shows of the Canary Fancy“ berichtete.

Eine frühe ausführliche Beschreibung der Färbung des Lizard kennen wir von W. A. Blackston, W. Swaysland und August F. Wiener um 1880.[12] In ihrem Werk gehen die Autoren detailliert auf die Spanglezeichnung, die Kappenformen und auch auf die Zucht und Bewertung der Lizardkanarien ein. Zur Geschichte des Lizard wird lediglich ein Satz von Publicola aus dem Jahr 1760 zitiert.

Robert L. Wallace schreibt 1903 in seinem zweibändigen Werk „The Canary Book“ über den Lizard, dass es keine Möglichkeit gäbe, den Ursprung dieser Vögel zu verfolgen. Allerdings bemerkte er in einer Fußnote zur Geschichte des London Fancy (der in sehr enger Verbindung mit dem Lizard steht):

„Man sagt, dass der Londoner Fancy-Kanarienvogel zuerst von den geflüchteten französischen protestantischen Seidenwebern kultiviert wurde, die vor etwa zwei Jahrhunderten nach London kamen, und dass sie von ihnen viele Jahre lang ausschließlich in Spitalfields [13] gezüchtet wurden. Ich habe in diesem Punkt jede mögliche Frage nach ihrer Herkunft gestellt, an Mr. Jas. Waller und andere, vor etwa zweiunddreißig oder dreiunddreißig Jahren, aber ich war damals nicht in der Lage, etwas zu finden, das bemerkenswert ist.“ (frei übersetzt)

Es ist schon erstaunlich, wie aus einem Hinweis auf die „fine spangle sort“ und „französische Kanarienvögel“ die Story von den protestantischen Flüchtlingen, die Lizards nach England/London brachten, gewebt wurde. Nach Wallace „sagt man“ lediglich. Es handelt sich also bestenfalls um eine mündliche Überlieferung, die bei keinem ernsthaften Autor Beachtung fand. Haben wir mit Robert Wallace und seiner Fußnote den Urheber der Mähr gefunden?

Ein ganz normaler Export/Import durch die damals schon rege Handelstätigkeit – auch mit Kanarienvögeln – ist natürlich nicht so spannend zu lesen. Offenbar deshalb haben sich alle späteren Autoren der spektakulären Legende bedient, um die Herkunft der Lizardkanarien zu erklären. Je öfter dies (ab)geschrieben wurde, umso so mehr wurde aus einer vermuteten Wahrscheinlichkeit eine bewiesene Tatsache!

Die Lizardrasse ist in Gefahr

Der Lizard war nie ein häufig gezüchteter Vogel und so führten die Wirren beider Weltkriege dazu, dass die Bestände deutlich zurückgingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Lizard-Zuchten in einem desolaten Zustand. Eine Hochrechnung, nach versuchter Bestandsaufnahme, ergaben in Großbritannien ein gefährlich niedriges Niveau von nicht mehr als 200 bis 250 Vögel. Um die Rasse Lizard zu retten, gründete sich am 13. Mai 1945 die „Lizard Canary Association“. Im Protokoll der Eröffnungssitzung wurde das gemeinsame Ziel formuliert: „Der Rat ist entschlossen, den Lizard typgerecht zu erhalten. In diesem Sinne hofft man, dass alle Mitglieder der Vereinigung bei Abgabe ihrer Bestandsvögel den anderen Mitgliedern den Vorrang einräumen“.[14] Die Bemühungen waren erfolgreich und so konnten schon wenige Jahre später Lizard-Kanarien an andere Züchter abgegeben werden.

Heute sind Lizard-Kanarien weit verbreitet und haben eine große Anhängerschaft. Die Qualität dieser Rassetiere ist auf einem erfreulich hohen Stand, zu dem die vielen Spezialclubs in aller Welt beigetragen haben.

Der genetische Ursprung

Bleibt nur noch die Frage zu klären, wie es zu der bei Kanarienvögeln eigentümlichen und einzigartigen Federzeichnung und zur auf dem Kopf begrenzten melaninfreien Scheckung gekommen ist. Gerade Letzteres ist vollkommen ungewöhnlich, da der Kopf bei allen anderen gescheckten Kanarien eines der letzten verbleibenden Melaninareale ist.

Rotstirngirlitz
Rotstirngirlitz
Lizard intensiv
Lizard intensiv ckear cap

Da der Rotstirngirlitz ebenfalls eine melaninfreie Stirn und auch eine schuppenähnliche Zeichnung auf Rücken und Brust zeigt, kann vermutet werden, dass die Lizardeigenschaften ursprünglich durch die Einkreuzung des Rotstirngirlitzes in die Kanarien übertragen wurde. Allerdings steht der praktische Beweis noch aus, vor allem, weil diese Girlitzart nur äußerst selten in Menschobhut gehalten und gezüchtet wird.

Auch ist bekannt, dass manchmal Mischlinge zwischen Kanarien und anderen Cardueliden eine Spanglezeichnung und/oder eine aufgehellte Kopfplatte haben können. In meinen frühesten Züchterjahren habe ich das selbst erlebt. Ich verpaarte männliche Girlitzmischlinge (Serinus serinus x Kanarie) wieder mit Kanarienweibchen, die daraus fallenden Männchen wieder mit Kanarien; bis zur 4. Generation. In einer der letzten Generation ist ein recht aufgehellter gelber Scheckvogel gefallen, dessen Scheckung eine Lizardzeichnung besaß.

Vermutlich ist dieses Spanglemuster im Genpool aller Cardueliden tief verankert und tritt manchmal sichtbar in Erscheinung. Man kann das Auftauchen dieses Zeichnungsmusters dann durchaus als Mutation betrachten. Diese Mutation muss – nach Blackston, Swaysland und Wiener – „ein paar Jahre vor 1880“ bei Züchtern in England/London aufgetaucht sein. Vielleicht zufällig bei einem Nachkommen hugenottischer Einwanderer, womit sich dann die Herkunft der unbewiesenen Legende nachvollziehen ließe.

Gleichgültig seiner tatsächlichen Herkunft ist und bleibt unbestritten: Der Lizard-Kanarienvogel ist eine englische Zeichnungskanarienrasse und eine wunderschöne und attraktive Bereicherung unseres Hobbys.

Quellen

[1] Philip Benedict: The Huguenot Population of France, 1600-1685: The Demographic Fate and Customs of a Religious Minority. Philadelphia: American Philosophical Society. ISSN 0065-9746. (1991), S. 9.

[2] Mack P. Holt: The French Wars of Religion, 1562–1629. (= New approaches to European history, Vol. 8.) Cambridge 1995, S. 82.

[3] Nancy Mitford: The Sun King. London: Hamish Hamilton. 1966.

[4] Robert Merle: Fortune de France. Aufbau-Verlag, Berlin 1999 – 2008. 13bändiger Roman über die Geschichte Frankreichs während der Religionskonflikte.

[5] The Huguenot Society. Unter: https://www.huguenotsociety.org.uk/history.html [Stand: 12.01.2021]

[6] Jean-Claude Hervieux de Chanteloup: Nouveau traité des serins de Canarie, contenant la manière de les élever, de les appareiller pour en avoir de belles races. Unter: http://data.bnf.fr/14328857/jean-claude_hervieux_de_chanteloup/ [Stand: 12.01.2021]

[7] Meyer, J. D.: Angenehmer und nützlicher Zeit=Vertreib mit Betrachtung curioser Vorstellungen …Nürnberg, 1748. Unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Angenehmer_und_n%C3%BCtzlicher_Zeit-Vertreib_1_(Meyer) [Stand: 12.01.2021]

[8] Vgl. Monthofer, M.: Der Lizard – begann seine Geschichte in Nürnberg? Der Vogelfreund 1/2019.

[9] Georges-Louis Leclerc: Histoire naturelle des oiseaux. 9 Bände, Imprimerie Royale, Paris 1770–1783. Unter: https://rmda.kulib.kyoto-u.ac.jp/item/rb00000013 (Band 7, Seite 14) [Stand: 12.01.2021]

[10] Publicola: The Bird Fancier’s Necessary Companion and Sure Guide; Being an Easy Way of Breeding Canary Birds, and the Best Method of Chusing and Keeping Them, Both for Breeding and Song. Printed for Thomas Hope, 1760/1762.

[11] Origins of the Lizard Canary. Unter: https://lizardcanaryassociation.com/home/lizard-origins/ [Stand 12.01.2021]

[12] W. A. Blackston, W. Swaysland, August F. Wiener: The Illustrated Book of Canaries and Cage Birds. Cassel, Petter, Calpin & Co., London, Paris & New York, 1878-81 (Lizard ab Seite 154). Unter: https://www.biodiversitylibrary.org/item/101262#page/179/mode/1up [Stand: 12.01.2021]

[13] Spitalfields = Stadtteil von London. Im Jahr 1612 gründeten dort englische Glaubensflüchtlinge, die nach mehrjährigem Asylaufenthalt in den Niederlanden nach England zurückgekehrt waren, die erste britische Baptistengemeinde.

[14] Scott, J.: Lizard History. The Lizard Canary Association. Unter: https://lizardcanaryassociation.com/home/lizard-history/ [Stand 12.01.2021]

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