veröffentlicht im „Der Vogelfreund“ 4/19
Diese Kanarienvögel besitzen nur noch in den Handschwingen eine Lipochromfarbe. Im restlichen Gefieder fehlt diese Farbe und die Vögel sind dort weiß.
Allerdings ist das Weiß nicht so strahlend reinweiß, wie es bei den rezessivweißen Kanarien der Fall ist.
Dominantweiße Kanarien können auch Dunkelfarbstoffe (Melanin) im Gefieder besitzen. Wir sprechen dann von dominantweißgrundigen Kanarien.
Geschichte
Offenbar trat die dominantweiße Mutation Mitte des 17. Jahrhunderts im damaligen Kurfürstentum Bayern auf, denn 1677 berichtete der Augsburger Arzt Dr. LUCAS SCHRÖCK (1646 bis 1730) – auch unter der latinisierten Namensform „Schroeckius“ bekannt – zum ersten Mal von schneeweißen Kanarienvögeln.
Ein anderer Arzt und Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina“, Dr. ROSINUS LENTILIUS (1657 bis 1733), erzählte 1702, dass im schwäbischen Nördlingen ein armer Weber eifrig Kanarienvögel in beliebigen Farben nach seinem Gutdünken züchtete und mit seinen Vögeln gute Geschäfte machte. Weiße Kanarienvögel gehörten bei ihm zu den Alltäglichkeiten.[1], [2], [3]
Auch der Pariser Naturwissenschaftler JEAN-CLAUDE HERVIEUX DE CHANTELOUP (1683 bis 1747) zählte in seinem Werk die ihm bekannten Farben auf, darunter „alle weißen Kanarienvögel mit roten Augen“ (Tous les Serins blancs aux yeux rouges). Die roten Augen hat er möglicherweise nur angedichtet, in Analogie zu den weißen Mäusen, Ratten und Kaninchen. Für weiße Kanarienmännchen ohne Fleck (Serin blanc sans tache) gibt er den damals recht hohen Preis von 15 Livre an (ein Vorarbeiter verdiente drei Livre am Tag). Auch fleckenlose weiße Weibchen erzielten immerhin noch acht Livre.[4]
Lange Zeit hörte und schrieb man nichts mehr über weiße Vögel. Offenbar verschwanden sie und tauchten erst nach mehr als 200 Jahren wieder auf. Einmal in Ostpreußen und ein weiteres Mal in Aschersleben beim Züchter BIBRACK.5 Auch hier waren es wiederum deutsche Länder, in denen diese weiße Mutation auftrat. Deshalb wurden sie auch „Deutschweiß“ genannt.
Weiß ist nicht gleich Weiß
Weiß ist die Summe aller Farben, die Summe aller Wellenlängen im sichtbaren Bereich und somit im Grunde keine Farbe. Das bedeutet, für uns Menschen entsteht der Farbeindruck eines reinen „weiß“ immer dann, wenn ein farbmittelfreies Material (Federn oder Federteile) alle Wellenlängen des sichtbaren Lichtes reflektiert. Bei Schwarz sind die Verhältnisse umgekehrt: alle sichtbaren Wellenlängen werden absorbiert, nichts wird reflektiert.
Mit dem Wissen über diese physikalisch-biologischen Vorgänge haben wir die Ursache gefunden, warum das Weiß der Dominantweißen nicht so strahlend ist, wie bei den Rezessivweißen: es müssen noch (sehr wenige) Lipochrome in der Feder vorhanden sein! Das beschrieb auch schon Dr. HANS DUCNKER und JULIUS HENNIGER: „Die deutschen weißen Kanarienvögel erscheinen nur beim oberflächlichen Hinsehen reinweiß. In Wirklichkeit zeigen sie in jeder Feder mikroskopische Spuren von Gelb, die allerdings mit bloßem Auge nicht zu sehen sind.“[1]
„Sie waren nicht rein weiß, sondern zeigten … einen leichten gelblichen Schein. Es handelte sich also eigentlich nicht um eine „weiße“ Spielart, sondern nur um nahezu fettfarblose „farbige“ Kanarien mit höchster Abschwächung der jeweiligen Fettfarbe.“[4]
Jeder der das Gefieder seiner aufgehellten dominantweißen Vögel vor Ausstellungen gewaschen hat, wird festgestellt haben, dass das Gefieder einfach nicht „sauber“, nicht strahlend weiß wird. Ursache sind die nassen und damit zusammengeklebten Federn, die mehr Licht absorbieren als das trockene, lockere Gefieder. Was nicht weiß ist, kann man auch nicht weißwaschen!
Wir Menschen streben immer nach dem Maximum, dem Extrem – auch in der Vogelzucht. Vielleicht sind deshalb die Dominantweißen nicht mehr so beliebt, weil ihr Weiß nicht so strahlend und rein ist. Möglicherweise spiegelt sich diese Auffassung auch in der teilweise undifferenzierten Bewertung aufgehellter dominantweißer Vögel auf Vogelschauen wieder. Viel zu oft wird das etwas stumpfe Weiß der Dominantweißen mit dem Maßstab des brillanten Weiß der Rezessivweißen verglichen und begutachtet.
Eine weitere Eigenschaft des Dominantweißen sind seine lipochromfarbigen Säume der Schwungfedern. An den äußeren Rändern der Schwungfedern muss gelbes bzw. rotes Lipochrom deutlich sichtbar sein. Hin und wieder finden sich Vögel, die zusätzlich in anderen Gefiederzonen Lipochrome oder einen leichten farbigen Lipochromanflug über das gesamte Gefieder zeigen. Beides gilt bei Bewertungen als Fehler. Andere Körperteile (Haut, Fett, innere Organe) und das Eidotter der Dominantweißen haben eine normale Färbung. Die Hornteile (Schnabel, Läufe, Zehen, Krallen) sind beim aufgehellten dominantweißen Vogel normal hornfarbig.
Die dominantweiße Eigenschaft können auch alle Melaninvögel tragen. Wir nennen sie dann dominantweißgrundig. Naturgemäß ist bei ihnen ein eventuell noch vorhandener Lipochromschleier im Gefieder nicht oder – bei sehr hellen Melaninfarben – nur sehr schwach erkennbar. Allerdings müssen auch bei allen dominantweißgrundigen Melaninvögeln die fettfarbigen Säume der Schwungfedern deutlich erkennbar sein. Vor allem bei den unverdünnt schwarzen und braunen Melaninvögeln ist das oft sehr schwer zu sehen. Noch weniger sichtbar sind bei diesen Vögeln Lipochromsäume in Gelbivoor und werden deshalb oft als Rezessivweißgrundige angesprochen.
Genetik
Duncker und Henniger machten für die Mutation „Deutschweiß“ einen Fettfarbentwicklungsfaktor verantwortlich. Fällt ein Allel aus, erhalten wir den Deutsch- oder Dominantweißen (Ff), der noch Reste von Lipochrom bilden kann. Sind beide Allele ausgefallen, sollten diese Vögel reinweiß (ff) sein. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass diese Vögel bereits im Ei sterben.
Heute wissen wir, das sich auf dem Chromosom 25 der Kanarienvögel eine Gengruppe, die als EDC (Epidermal Differentiation Complex) bezeichnet wird, befindet.[6] Die Gene dieses Komplexe kodieren bei allen Tieren Enzyme, die u. a. an der Differenzierung der Keratinzellen (Keratinozyten) der Haut – und den dort wachsenden Haaren bzw. Federn – beteiligt sind. Kommt es bei diesen Genen zu Mutationen, hat das oft drastische Auswirkungen auf die Haut. Beim Menschen sind schwere Verhornungsstörungen der Oberhaut bis hin zu Tumoren bekannt; bei Rindern und Hunden kennt man einen angeborenen EDC-Gendefekt, der bereits im Embryonalstadium tödlich wirkt.[7]
Auch die Mutation „Dominantweiß“ verursacht ähnliche Störungen. Bei einfaktorigen (heterozygoten) Dominantweißen wird vermutet, dass die Keratinzellen der Federn die Einlagerung der bereits im Körper gebildeten Lipochrome hemmen, bzw. die Einlagerung nur in einem frühen Jugendstadium zugelassen wird. Offensichtlich kommt es zu einer schnelleren Verhornung des Federkeratins resp. zu einer verlangsamten Einlagerung der Lipochrome in den Federn. Das erklärt dann auch, warum die bewussten Federpartien (es sind die zuerst gebildeten Federn) noch Lipochromeinlagerungen aufweisen. Einfaktorige Vögel sind voll lebensfähig, fruchtbar und vital, da nur die Fettfarbeinlagerung in die Federn von der Mutation betroffen ist.
Bei den zweifaktorigen (homozygoten) Vögeln kommt es offenbar zu schwerwiegenderen körperlichen Defekten, denn diese Vögel sind nicht lebensfähig und sterben bereits im Ei. Wir sprechen deshalb oft von einem „Letalfaktor“. Die Genetiker unterscheiden u. a. zwischen dominanten und rezessiven Letalfaktoren. Dominante Letalfaktoren können nicht in einem Zuchtbestand erhalten werden, da bereits einfaktorige Träger vor der Geburt oder Geschlechtsreife sterben. Ein rezessiver Letalfaktor wirkt nur dann tödlich auf die Nachkommen, wenn dieser Faktor homozygot vorliegt.[8] In der Tierzucht kann ein solches Gen dabei in seiner heterozygoten Form züchterisch erwünschte Auswirkungen auf den Phänotyp haben (z. B. Dominantweiß und/oder Federhaube bei Kanarien). Unsere lebensfähigen, sehr vitalen – weil heterozygot! – dominantweißen Vögel sind also Träger eines rezessiven Letalallels!
Manche Dominantweißen lagern mehr Lipochrome in den Federn ab als andere. Diese unterschiedlichen Ausprägungen sind der Genexpression geschuldet. D. h., das Allelpaar Wd+_Wd (bei Henniger Ff) kann eine geringere oder eine etwas größere Enzymaktivität hervorrufen und damit die Menge der Lipochromeinlagerung mal steigern, mal verringern. Alle durch Genexpressivität hervorgerufenen unterschiedlichen Phänotypen können durch Zuchtauslese in die eine oder in die andere Richtung selektiert werden. Somit wäre es z. B. möglich, Dominantweiße mit komplett roten Handschwingen zu züchten.
Die Zucht dominantweißer Kanarien
Aus dieser Verpaarung fallen theoretisch je zur Hälfte lipochromfarbige und dominantweiße Nachkommen.
Eine Verpaarung dominantweißer / dominantweißgrundiger Kanarien untereinander führt bei den zu erwartenden 25% doppelfaktorigen Nachkommen (Wd_Wd) zum Tod. Deshalb ist aus ethischen und tierschutzrechtlichen Gründen eine Verpaarung zweier dominantweißer Kanarien miteinander verboten! (siehe Gutachten zum §11b des Tierschutzgesetzes[9]) Vitale dominantweiße / dominantweißgrundige Kanarien sind demzufolge immer einfaktorig, besitzen immer die Allele Wd+ und Wd.
Dominantweiße Kanarien lassen sich über alle Lipochromfarben züchten (Gelb, Gelbivoor, Rot, Rotivoor). Die geforderten lipochromhaltigen Ränder der Handschwingen lassen sich jedoch bei dominantweißen Ivoorvögeln nur schlecht erkennen. In der C.O.M. sind Deutschweiße und deutschweißgrundige Kanarien mit roten Handschwingen derzeit nicht zugelassen! Erst im Jahr 2018 hat die DKB-Preisrichtergruppe FPMCE für den DKB die Wiederzulassung der dominantweißen/dominantweißgrundigen Vögel mit Rot in den Schwungfedern beschlossen.
Da es keine lipochromfarbigen Vögel geben kann, die spalterbig in dominantweiß sind, ist besonders darauf zu achten, dass immer genügend Dominantweiße im Zuchtbestand vorhanden sind. Es kann – vor allem in kleinen Zuchtbeständen – durchaus vorkommen, das in einem Jahr keine oder nur sehr wenige Dominantweiße schlüpfen. Im nächsten Jahr kann sich das allerdings umkehren.
Vor allem in der Zucht aufgehellter dominantweißer Vögel ist darauf zu achten, dass die Lipochromfarbe der farbigen Partner nicht zu farbintensiv ausfällt. Wird dies nicht beachtet, kann sich ein gelber bzw. roter Farbschleier verstärkt über das gesamte Gefieder der dominantweißen Nachkommen ziehen.
Aus einer Verpaarung dominantweißer mit rezessivweißen Kanarien fallen zu 50% fettfarbige Vögel, die spalterbig in Rezessivweiß sind. Die andere Hälfte ist Dominantweiß spalterbig in Rezessivweiß. Diese sind in Form und Größe oftmals deutlich besser, zeigen ein schöneres Weiß und eine deutliche Fettfarbsäumung der Schwingen. Voraussetzung ist, dass die rezessivweißen Partner aus der Verpaarung guter lipochromhaltiger Vögeln stammen.
Der Einsatz von Ivoor-Vögeln in der Zucht Dominantweißer kann die Gefiedertextur positiv beeinflussen. Allerdings sind nach meiner Auffassung die dominantweißen Nachkommen in Ivoor keine Ausstellungsvögel, da der Fettfarbanflug der Schwingen kaum sichtbar ist.
Auch weiße und weißgrundige Vögel besitzen eine Kategorie (intensiv oder nichtintensiv oder gar den Mosaik-Faktor). Da diese Eigenschaften bei einem weißen Vogel nicht ohne weiteres sichtbar sind, muss bei der Verpaarung mit weißen Vögeln besondere Aufmerksamkeit auf die Gefiedertextur gelegt werden. Dem ungeübten Züchter kann es sonst schnell passieren, dass das Gefieder zu dünn oder zu lose wird. Wie bei allen Farbenkanarien kommt man jedoch nicht umhin, intensive Vögel in der Zucht einzusetzen. Manche intensiven dominantweißen Nachkommen können dann auch an den Flügelbügen, an der Schnabelwurzel, und auch an anderen Stellen des Gefieders eine Lipochromfärbung zeigen. Auch ein schwacher Lipochromschleier kann sichtbar sein. Solche Vögel sind zwar nicht für Ausstellungen geeignet, können aber – mit dem richtigen Partner – wertvoll in der Zucht sein.
Neben einer geschickten, zweckmäßigen Zusammenstellung der Brutpartner kann ein zielführendes Fütterungsregime zu guten Ausstellungsvögeln führen. Durch Farbfütterung vor der Eiablage werden die – genetisch veranlagten und/oder selektiv beeinflussten – Lipochromzonen (Handschwingen) deutlich gefärbt. Bis zur abgeschlossenen Jugendmauser kann dann Futter gereicht werden, wie es in der Nestlingszeit der Mosaikkanarien üblicherweise verwendet wird
Ausblicke
Wie wir festgestellt haben, besitzen dominantweiße / dominantweißgrundige Kanarien noch Reste an Lipochrom. Sie sind, wie es Julius Henniger ausdrückte, „…nahezu fettfarblose ,farbige‘ Kanarien mit höchster Abschwächung der jeweiligen Fettfarbe“. Deshalb sollte überlegt werden, ob diese Vögel mit der heutigen Bewertungspraxis gerecht beurteilt werden, oder ob nicht eine andere Herangehensweise diesen Vögeln gerechter wird.
Bei Mosaikkanarien wird die die Farbintensität und Gleichmäßigkeit der abgegrenzten Lipochromareale und die Fettfarblosigkeit des restlichen Gefieders („Kreide“) getrennt in zwei Bewertungspositionen beurteilt. So könnte man künftig auch mit den dominantweißen / dominant-weißgrundigen Kanarienvögeln verfahren. Die deutlich sichtbaren und fettfarbigen Handschwingen könnten unter der Bewertungsposition „Lipochrom“ bewertet werden (25 bzw. 10 Punkte) und das restliche weiße Gefieder unter der Bewertungsposition „Kategorie“ (30 bzw. 15 Punkte).
Dieser Vorschlag zur Veränderung der Bewertungskriterien der Dominantweißen wird zurzeit in der DKB-TK-FP und in der DKB-Preisrichtergruppe FPMCE diskutiert. (Anmerkung: Dieser Vorschlag ist inzwischen beschlossen worden und wird in der Praxis umgesetzt)
Vielleicht wird so der Weg geebnet, weiße Vögel mit gelben oder gar leuchtend roten Großgefieder zu selektieren und zu züchten. Diese „Flamingos“ sagte schon Julius Henniger 1962 voraus und wären ein attraktives Gegenstück zu den Weißflügeln.
Quellen
[1] Duncker, Hans: Kurzgefasste Vererbungslehre für Kleinvogelzüchter unter besonderer Berücksichtigung der Kanarienvögel und Wellensittiche. Verlag F. Poppe, Leipzig 1929.
[2] Aschenbrenner, Anton Hermann: Der Farben- und Gestalts-Kanarienvogel. Creutz`sche Verlagsbuchhandlung Magdeburg.
[3] Stresemann, Erwin, Zur Geschichte einiger Kanarienvogelrassen.
[4] Jean-Claude Hervieux de Chanteloup: Nouveau traité des serins de Canarie, contenant la manière de les élever, de les appareiller pour en avoir de belles races. Paris 1709. Unter: http://data.bnf.fr/14328857/jean-claude_hervieux_de_chanteloup/ (hier Ausgabe von 1785, Seite 169 und 207).
[5] Henniger, Julius: Farbenkanarien. Ein Lehrbuch für Farbenkanarienzüchter insbesondere über Farbenvererbung. Maximiliansau 1962.
[6] Lopes, R.; Johnson, J.; Toomey, M.; Ferreira, M.; Araujo, P.; Melo-Ferreira, J.; Andersson, L.; Hill, G.; Corbo, J.; Carneiro, M.: Genetic Basis for Red Coloration in Birds. Current Biology, 26, published online ahead of print on 19 May 2016 | doi:10.1016/j.cub.2016.03.076
[7] Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Ichthyose
[8] Unter: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/letalfaktoren/39032
[9] Unter: https://www.bmel.de/cae/servlet/contentblob/631716/publicationFile/35840/Qualzucht.pdf