veröffentlicht im “Der Vogelfreund” 05/2022
Ethik und Moral in der Vogelzucht
Inhalt
Es gibt eine Vielzahl von Kanarienrassen, deren Erscheinungsbilder nicht mehr mit der wohlgerundeten Finkenform des „gewöhnlichen“ Kanarienvogels übereinstimmen. Es gibt kugelrunde und sehr langgestreckte Kanarien, manche tragen eine Federhaube auf dem Kopf oder Frisuren am Körper und wieder andere nehmen eine absonderlich anmutende Haltung ein. Der Laie findet die eine oder andere Kanarienrasse nicht schön oder gar hässlich. Dann wird diese Ablehnung leider noch viel zu oft mit der persönlichen ethischen und moralischen Wertevorstellung begründet und dem Züchter dieser Rassen jegliche Ethik und Moral abgesprochen.
Der Moralbegriff
Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Ethik oder ethisch zur Bezeichnung des moralisch Guten verwendet. Es findet also eine wertende Beurteilung einer Handlung statt, womit wir bei der Moral oder Sittlichkeit sind.
Unsere Moralvorstellungen sind in überlieferten Werten, Normen und Tugenden festgeschrieben und sind somit immer durch Tradition, Erziehung und Ideologie kulturell geprägt. Unmoralisch ist es, wenn gegen die Moralvorstellungen verstoßen wird und amoralisch ist es, wenn Moralvorstellungen gänzlich fehlen oder abgelehnt werden. Von einer Doppelmoral wird gesprochen, wenn unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für gleiche oder ähnliche Sachverhalte angewendet werden.
Und dann haben wir noch den Moralismus als übersteigerte Form des Moral- und Sittlichkeitsempfinden. Moralisten grenzen sich von anderen ab und sind überzeugt, dass allein sie auf der richtigen – der „guten“ – Seite stehen. Moralisten stellen ihre radikalen moralischen Überzeugungen über die Auffassungen anderer Menschen, lassen deren Moral als minderwertig und unmoralisch erscheinen.
Unstrittig ist, dass jeder Mensch von Beginn an die sittliche Kultur der Gemeinschaft, in der er lebt, anerzogen bekommt. Das bedeutet aber auch, dass in anderen Kulturen andere sittliche Normen gelten, die wir zur Kenntnis nehmen und beachten müssen. Sittlichkeit und Moral entwickeln sich ständig weiter und verändern sich im Laufe der Zeit. In den letzten Jahrzehnten hat ein rapider Wertewandel in der Mensch-Tier-Beziehung stattgefunden, der sich weiter fortsetzen wird. Die Einstellung, dass der Mensch mit Tieren machen kann, was er will, solange es dem Menschen nutzt, schwindet.
Ethischer Umgang mit Tieren
Es ist heute nicht mehr allein der individuellen moralischen Einstellung überlassen, wie mit Tieren – und hier speziell mit Vögeln – umgegangen werden soll. Der Gesetzgeber hat dazu eine Fülle von Vorschriften erlassen. Die Regeln, Gesetze und Verbote sollen uns zwingen, die tatsächlich oder vermeintlich richtige sittliche Einstellung zum Umgang mit Tieren einzunehmen. Leider ist es aber auch Tatsache, dass die gut gemeinte, und in Gesetze gegossene, moralische Einstellung zur Tierhaltung nur so lange gilt, bis wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Oder wie ist es zu erklären, dass verschiedene Impfstoffe gegen die Geflügelpest („Vogelgrippe“) entwickelt wurden, aber keiner auf dem Markt verfügbar ist? Also werden weiterhin tausende Hühner, Gänse und Enten gekeult, wenn das Virus nachgewiesen wird. Oder es dauert Jahrzehnte, bis sich der Gesetzgeber entschlossen hat, das Schreddern männlicher Hühnerküken zu verbieten … Wie soll ein Mensch in heutiger Zeit an die Wirksamkeit ethischer Gebote glauben, wenn von „Fleischproduktion“ gesprochen wird. Statt gegen dieses Verhalten massiv anzukämpfen, erscheint es manchen Moralisten daher viel leichter, sich an der kleinen Gruppe der Ziervogelhalter abzuarbeiten, ihnen die Liebe zum Tier abzusprechen und die Vogelhalter als unmoralisch oder amoralisch handelnde Menschen abzustempeln.
Manche Positurkanarien-Rassen werden verteufelt
Manche Positurkanarien nehmen eine für Außenstehende sonderbar erscheinende Haltung ein. Kenner dieser Haltungs- und Figurenkanarien finden das wunderschön, andere finden diese Vögel aber abstoßend. Manch einer äußert sein Missfallen in drastischen Worten wie „Missgeburt“, „krankhaft“ oder „ihr Anblick ist nicht zumutbar“. Das ist Ausdruck des persönlichen Schönheitsempfindens und ist ganz normal. Leider begründen manche Menschen ihre ablehnende Meinung mit der Behauptung, dass diese Vögel doch Schmerzen haben müssten und deshalb leiden.
Um diese Meinung zu untermauern, finden sich kluge Menschen (meist sind es Tierärzte und kaum Zoologen, Ethologen oder Anatomen und niemals kompetente Züchter), die wissenschaftlich beweisen wollen, dass krankhafte Veränderungen des Körperbaues bei Figurenkanarien vorhanden sind, und diese Vögel deshalb leiden müssen. Sicher ist jedoch, dass alle Figurenkanarien lebensfrohe, agile und fruchtbare Vögel sind, die in ihren Heimatländern zu Hunderten auf Ausstellungen gezeigt werden und teilweise als Nationalvögel gelten.
Wo bleibt die Toleranz und Akzeptanz gegenüber der Andersartigkeit und Vielfalt fremdländischer Rassegeschöpfe? Gerade wir Deutschen sind gut beraten, wenn wir nicht (wieder) – auch nicht bei Vogelrassen – entscheiden oder bestimmen, was lebenswert oder züchtenswert ist und was nicht. Auch das hat etwas mit Moral und Ethik zu tun!
Tierschutz in der Vogelzucht
Alle Vogelzüchter sind verantwortlich für die von ihnen gehaltenen und gezüchteten Vögel. Sie haben eine hohe moralische und ethische Verantwortung zu übernehmen und zu verwirklichen. Dazu zählt auch der Tierschutz, der vom Gesetzgeber in mehreren Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften geregelt wird.
Niemand darf einem Tier Schmerzen, Leiden und Schäden zufügen! So steht es im deutschen Tierschutzgesetz. Allerdings werden diese sehr begrüßenswerten Forderungen eingeschränkt, wenn ein „vernünftiger Grund“ vorliegt. Ein solcher Grund kann nach Gesetzeslage bei Schlachtungen, Kastrationen, Verstümmelungen und Tierversuchen vorliegen. All diese „vernünftigen“ Gründe liegen in der Zucht von Ziervögeln nicht vor!
Das Wohlbefinden unserer Vögel ist Bedingung für eine erfolgreiche Zucht
Der "Qualzuchtparagraf"
Im deutschen Tierschutzgesetz (TierSchG)[3] werden viele weitere Details zum Tierschutz geregelt. Zum Paragrafen 11b (Verbot der Zucht von Wirbeltieren, bei denen Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten können – „Qualzuchtparagraf“) gibt es ein Gutachten mehrerer honoriger Herren zu bestimmten Heimtier-Zuchtformen.[4] Bei Tieren, die der „Fleisch-, Milch- und Eierproduktion“ dienen, gibt es offenbar keine Qualzuchten, denn diese werden im Gutachten nicht erwähnt! Aber einige Kanarienrassen werden aufgeführt und somit den Züchtern dieser Vögel unterstellt, dass sie eine „Qualzucht“ betreiben. Ein schreckliches Wort, denn kein einziger Kanarienzüchter wird wissentlich seinen Lieblingen Qualen und Leid zufügen!
Die Quellen, die teilweise als Grundlage des Gutachtens dienen, sind nicht der aktuelle Stand des Wissens. Es werden Untersuchungen von Rassehygienikern der 1930er Jahren, Populärliteratur der Vogelzucht und Dissertationen zu bestimmten Themen als Quellen angeführt. Wissen und Erfahrungen der Kanarienzüchter sind offenbar nicht eingeflossen.
All diese „Qualzuchten“ sind dem normalen biologischen Fortpflanzungsgeschehen entsprungen, sonst würde es sie nicht geben. Einige der kritisierten Rassen sind schon viele Jahrhunderte alt. Das ist ein Zeichen dafür, dass die biologischen Funktionen, wie Balz, Begattung, Nestbau und Jungenaufzucht, in vollem Umfang erhalten geblieben sind und diese Haustiere keine Qualen leiden. Alle Haustiere – auch Rassekanarien – wurden nach dem Willen des Menschen geformt. Da sie jedoch nicht den körperlichen Bedürfnissen des Menschen dienen, sondern ihm Freude und Entspannung spenden, sind es Kulturgeschöpfe, geboren für ein Leben in Menschenobhut.
In allen Publikationen über die Vogelzucht gibt es Hinweise und Erklärungen, wie Vögel, die bestimmte genetische und körperliche Eigenschaften haben, zu halten und zu züchten sind. All diese Hinweise sind den Praktikern der Kanarienzucht bekannt bzw. werden durch Fachartikel, Fachbüchern und im Internet verbreitet. Deshalb soll an dieser Stelle nicht näher auf die einzelnen, der „Qualzucht“ verdächtigen, Merkmale eingegangen werden.
Grundsätzlich gilt: Die Grenze des züchterisch Machbaren verläuft dort, wo biologische Grundfunktionen gestört und beim Tier Schäden hervorgerufen werden! Das ist bisher nur bei sehr wenigen Kanarienrassen aufgetreten! Es liegt in der Verantwortung der Züchter, eine Übertypisierung bestimmter Merkmale, und die damit verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen, durch gezielte Selektion zurückzufahren bzw. nicht auftreten zu lassen. Die Züchterverbände geben mit ihren Rassestandards den Züchtern dazu eine Hilfe und überwachen die Einhaltung der Vorgaben mit ihren Vogelbewertungen auf Vogelschauen und Wettbewerben.
Veränderter Körperbau bei Figurenkanarien
Einen veränderten Körperbau finden wir bei allen Haustierrassen, die nicht mehr mit der Wildform zu vergleichen sind. Auch bei vielen Positur-Kanarienrassen hat sich der Körperbau verändert, da die Natur das ermöglichte. Der Mensch hat diese Geschenke der Schöpfung dankbar entgegengenommen und nach seinem Willen weiterentwickelt.
Wie unschwer an den Bildern der Skelette zu erkennen ist, besitzen die Figurenkanarien den gleichen Knochenaufbau, nur deren Stellung ist unterschiedlich. Bei den Cardueliden ist die Halswirbelsäule in Ruhehaltung s-förmig gekrümmt und bildet so den relativ kurzen Hals. Die Figurenkanarien können die Halswirbelsäule, die nicht mehr Wirbel als „normale“ Kanarien hat, nach vorn strecken. Die beteiligten Muskeln und Sehnen ermöglichen das. Gleiches gilt für die Ober- und Unterschenkel sowie der Läufe, die in veränderten Winkeln zueinander stehen.
In einer vergleichenden Studie wurden 33 Positurkanarien der Rassen Bossu Belge, Südholländer und Gibber Italicus untersucht. Dabei stellte das Forscherteam fest, dass die Rassen Gibber Italicus und Südholländer acht statt sieben Rippenpaare hatten. Die Anzahl der Halswirbel ist unverändert, jedoch war die Länge der Wirbel beim Südholländer geringfügig größer (± 0,03 mm). Inwieweit diese Veränderungen zu gesundheitlichen Problemen insbesondere bei zunehmendem Alter der Vögel führen könnten, bedarf weiterer Untersuchungen.[5] Züchter dieser Rassen können jedoch keine altersbedingten Probleme feststellen.
Vögel können auch im Tiefschlaf auf Ästen sitzen, ohne dass der Klammerreflex der Zehen aufgehoben wird. Wenn sich ein Vogel auf einen Ast niederlässt, beugt er das Knie und das Intertarsalgelenk und verringert den Winkel zwischen beiden Knochen. Eine Sehne, die über das Kniegelenk zum Intertarsalgelenk führt, wird dabei angezogen. Das führt dazu, dass die Zehen den Ast ohne Muskelarbeit fest umklammern können. Die Zehen besitzen einen ähnlichen Mechanismus, der die gekrümmte Zehenstellung ohne aktive Muskelarbeit fixiert. Der Vogel kann den Ast nur dann loslassen, wenn er aktiv die Beine streckt.[6]
Es wird von manchen Menschen befürchtet, dass bei Figurenkanarien, deren Lauf und Unterschenkel eine gerade oder nahezu gerade Linie bilden, diese Haltung zu Störungen des Greifreflexes führen. Diesen „Fachleuten“ wird empfohlen, sich nur einmal eine Stunde vor die Voliere mit Gibber Italicus zu stellen und die Vögel zu beobachten. Er wird schnell feststellen, dass die Vögel ihre „absonderliche“ Haltung ganz frei und ohne Zwang einnehmen. Offensichtlich haben sie Freude an der Zurschaustellung ihrer körperlichen Vorzüge. Manche Gibber stehen nahezu meditativ mit durchgedrückten Intertarsalgelenken bis zu einer halben Stunde auf der Stange. Das würden sie sicherlich nicht tun, wenn ihnen „die Beine wehtun“.
Langbeinige Vogelarten (z. B. Flamingos) können stundenlang auf einem Bein stehen, weil das Intertarsalgelenk in der Endstellung einrastet. Ob das auch bei den betreffenden Figurenkanarien der Fall ist, müsste noch untersucht werden.
Quellen
[1] Lorz, Metzger: Tierschutzgesetz, Kommentar. München, 1999.
[2] Definition der International Association for the Study of Pain. Unter: https://www.iasp-pain.org/Education/Content.aspx?ItemNumber=1698#Pain.
[3] https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html
[4] https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Tierschutz/Gutachten-Leitlinien/Qualzucht.html
[5] Krautwald-Junghans, M.-E., Emmelmann, S., Pees, M., Bartels, T.: Vergleichende Untersuchungen am Bewegungsapparat von gebogenen Positur- und Farbkanarienvögeln. Vet. Med. Austria / Wien. Tierärztl. Mschr.90 (2003), 211 – 219. Unter: https://center.ssi.at/smart_users/uni/user94/explorer/43/WTM/Archiv/2003/WTM_8-2003/WTM_08-2003_Artikel_2.pdf [Stand: 22.03.2021]
[6] Bergmann, H.-H.: Die Biologie des Vogels. Aula-Verlag Wiesbaden, 1987.