11. Oktober 2024

Qualzucht Federhaube?

Die Historie der Kopfhaube bei Kanarien

Wann Kanarienvögel mit einer Kopfhaube das erste Mal aufgetreten sind, werden wir vermutlich nie erfahren. Der Heidelberger Jurist und Prälat Marcus zum Lamm (1544 bis 1606) schuf um 1580 seine unveröffentlichte handschriftliche 33-bändige Enzyklopädie „Thesaurus Pictuarum“ (Bilderschatz). Drei Bände widmen sich der mitteleuropäischen Vogelfauna des 16. Jahrhunderts. Das Bild 324 zeigt einen sehr gelbhaltigen Kanarienvogel mit deutlich erkennbaren „Fasanenohren“. Dies könnte ein erster bildlicher Hinweis auf gehäubte Kanarienvögel sein.

Haubenvogel Marcus zum Lamm
Sehr gelbhaltiger „gehäubter“ Kanarienvogel aus dem „Thesaurus Pictuarum“ von Marcus zum Lamm

Der Niederländer Frans von Wickede erwähnte in seinem Buch, das bereits 1734 gehäubte Kanarienvögel aus Nürnberg nach Holland gelangt sind.[1]

Weitere interessante Geschichten zur Entstehung und Entwicklung der Kanarienhaube finden Sie im 3. Band des „Kompendium – Kanarienvögel“.

Haube ist nicht gleich Haube

Es gibt weltweit etwa 24 bekannte Kanarienrassen mit einer Kopfhaube. Davon sind 11 Rassen international durch die C.O.M. anerkannt. Die Hauben dieser Rassen sind allesamt unteschiedlich ausgeprägt. Bei einigen Rassen ist sie sehr klein, bei anderen Rassen sehr groß und üppig. Es ist demnach sehr unseriös, alle Haubenkanarienrassen „über einen Kamm zu scheren“. Dieses Pauschalurteil gipfelt darin, dass bestimmte Zoogeschäfte keine Vögel mit Haube aufkaufen, da es „Qualzuchten“ seien.

Fiorino mit Haube
Fiorino mit Haube - die Haube ist klein, bedeckt weder Schnabel noch Augen und behindert den Vogel in keiner Lebenslage
Crested
Crested - die übergroße Haube bedeckt Schnabel und die Augen vollständig. Das entspricht nicht der Standardbeschreibung und ist eine Übertypisierung des Haubenmerkmals

Vererbungsweise und Letalfaktor

Bereits Charles Benedict Davenport stellte 1908 fest, dass die Haubeneigenschaft einem autosomalen (frei vom Geschlecht) und dominanten Erbgang unterliegt.[2] Nach den damals schon bekannten Mendelschen Erbregeln müsste aus der Verpaarung Haubenvogel mit Haubenvogel die Mehrzahl der Jungvögel eine Haube tragen. Das ist jedoch nicht der Fall.

Hans Duncker hat dazu eine Vielzahl unterschiedlicher Verpaarungen vorgenommen, statistisch ausgewertet und letztendlich festgestellt, dass aus einer Verpaarung Haube x Haube 25% der Jungvögel nicht schlüpfen oder kurz danach sterben.[3]

Über die Ursache dieser letalen Wirkung bei zweifaktorigen (homozygoten) Haubenvögeln wurde viel spekuliert. Vermutungen, dass es zu schwerwiegenden Schädel- und Gehirnveränderungen kommt, konnten wissenschaftliche Untersuchungen nicht bestätigen.[4]

Die Haubenzucht kann also nur mit einfaktorigen (heterozygoten) Haubenvögeln durchgeführt werden, da zweifaktorige Haubenvögel nicht zur Geschlechtsreife gelangen. Die Verpaarung von zwei einfaktorigen Haubenvögeln erzeugt ca. 25% abgestorbene Embryonen, sodass die Anzahl geborener Jungvögel deutlich vermindert ist. Außerdem wird die Haubenqualität der heterozygoten Vögel aus solch einer Verpaarung nicht besser, sondern eher schlechter. Schon allein aus diesen Gründen werden Züchter diese Verpaarung nicht vornehmen! Sie werden immer einen Haubenvogel mit einem Glattkopfpartner verpaaren. Ob das Männchen oder das Weibchen eine Haube trägt, spielt dabei keine Rolle. Aus solch einer Verpaarung trägt die Hälfte der Nachkommen eine Haube, die andere Hälfte der Jungvögel ist haubenlos.

Vererbung Haubenfaktor
Vererbung des Haubenmerkmals

Diese Empfehlung wird seit fast 100 Jahren von den Zuchtverbänden an die von ihnen betreuten Züchter in vielfältiger Weise weitergegeben.

Es kann also nur lebensfähige einfaktorige (heterozygote) Haubenvögel geben! Diese – und ihre Partner ohne Haube – haben keinerlei Minderleistungen bezüglich Wachstum, Selbsterhaltung und Fortpflanzung die sich in körperlichen und/oder seelischen Veränderungen oder Störungen äußern und die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind.

Das Gesichtsfeld der Haubenvögel

Ein Vogel mit einer Federhaube muss nicht zwingend in seinem Gesichtsfeld eingeschränkt sein. Vögel mit einer kleinen Haube (z. B. Deutsche Haube, Fiorino) haben keinerlei Nachteile, was sich in jeder Voliere, die mit solchen Haubenvögeln und ihren Glattkopfpartnern besetzt ist, beobachten lässt.

Vögel mit einer großen Haube haben ein eingeschränktes Gesichtsfeld. Die überstehenden Haubenfedern lassen einen Blick nach oben nicht zu, wenn die Vögel eine normale Haltung einnehmen. Sie könnten also einen von oben anfliegenden Raubvogel nicht sehen. Unsere Ziervögel sind seit vielen Generationen (bei Kanarienvögeln sind das etwa 500!) nicht mehr dem Druck durch Beutegreifer ausgesetzt. Die eventuelle Sichteinschränkung spielt für eine Feinderkennung also keine Rolle mehr.

Gloster Corona
Gloster Fancy Corona, Melanin

Auch die Orientierung in Käfig und Voliere müsste, nach Meinung mancher Laien, bei Vögeln mit einer großen Haube oder Überaugenwülsten eingeschränkt sein. Das ist aber nicht der Fall! Auch solche Vögel lernen recht schnell, dass sie einfach nur den Kopf drehen müssen, um mit einem Auge nach oben – und mit dem anderen nach unten – schauen zu können. Die Sicht nach vorn (binokular) ist bei ihnen sowieso nicht eingeschränkt, deshalb können sie mühelos die nächste Sitzgelegenheit ansteuern, ein bestimmtes Korn finden und auch die Schnäbel der Jungvögel bei deren Fütterung zielsicher treffen.

Wichtiger ist, die Wuchsrichtung der kleinen Haubenfedern zu beachten. Wenn diese stark gekrümmt sind und die Augenhornhaut berühren, ist mit permanenten Reizung der Hornhaut zu rechnen. Dies kann zu stärkeren Beeinträchtigungen der Sehfähigkeit bis hin zur Blindheit führen. Durch eine strenge Auswahl der Zuchtpartner nach ihrer Federtextur (hart oder weich, lang oder kurz, breit oder schmal usw.) lassen sich solche nach innen krümmende Haubenfedern züchterisch vermeiden.

Übertypisierung der Scheitelhaube

Eine Übertypisierung von Merkmalen, die das Wohlbefinden der Tiere beeinträchtigen, wird von allen Vogelzüchterorganisationen grundsätzlich abgelehnt! Deshalb wird in keinem internationalen und nationalen Rassestandard gefordert, das Federn bis in die Augen hineinreichen. Im Gegenteil: Auch bei Rassen mit großer Haube wird gefordert, dass die Augen sichtbar sein müssen. Ist das der Fall, hat der Vogel zwar, wie gerade erläutert, ein eingeschränktes Sichtfeld nach oben, es kann aber zu keiner Augenreizung und damit zu Schäden kommen, die mit Schmerzen und Leiden verbunden sind.

Die deutschen Züchterverbände haben in ihren Standards und Richtlinien festgelegt, dass Züchter, die Vögel mit Übertypisierung auf Bewertungsschauen ausstellen, mit einem deutlichen Punktabzug rechnen müssen oder gar von einer Bewertung ausgeschlossen werden.

Siehe dazu auch: Gutachten zu Extremmerkmalen und Schulungsmaterial „Bewertung von Vögeln mit Extremmerkmalen

Ethisch-moralische Vorbehalte

Jeder Ornithologe und jeder Vogelzüchter weiß, dass nicht aus allen befruchteten Eiern auch Jungvögel schlüpfen. Sie können in allen Phasen der Bebrütungszeit sterben. In der Natur ist das ein natürlicher Prozess und kommt immer wieder vor. Auch in Menschenobhut geschieht das oft. Die Ursachen dafür können sehr unterschiedlich sein (zerbrochene oder verschmutzte Eier, mangelnde Brutpflege, äußere klimatische Einflüsse, Nesträuber u. v. m.).

Wie weiter oben dargelegt, kann es homozygote Haubenkanarien nicht geben. Es ist also nur eine Zucht mit heterozygoten Haubenvögeln möglich. Diese tragen ein letales Allel für das Haubenmerkmal. Die letale Wirkung äußert sich jedoch nur dann in einem Teil der Nachzucht, wenn zwei Merkmalsträger miteinander verpaart werden. Die Merkmalsträger – also die Haubenvögel – haben keinerlei „erblich bedingte Körperteile oder Organe, die für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten.[5]

Rheinländer Haube
Rheinländer Haube Dominantweiß

Da es keine homozygoten Haubenkanarien geben kann – die dann eventuell Schmerzen, Leiden oder Schäden erdulden müssten, was jedoch keiner weiß – können diese vermuteten negativen Auswirkungen auch nicht an die lebenden Nachkommen weitergegeben werden. Bleibt die Frage, wann die Embryonen im Ei sterben, und ob sie bis zum Tod Schmerzen, Leiden oder Schäden empfinden können. Da das bis heute nicht erforscht wurde, wird das vom Gesetzgeber „vorsorglich“ als Tatsache angenommen und (heterozygote) Haubenkanarien generell als Qualzucht eingeordnet. Anders ausgedrückt: Das ungeborene Leben im Vogelei wird geschützt!?

Übrigens: Bei Hühnern geht man davon aus, dass die Embryos bis zum 6. Bebrütungstag keine Schmerzen (andere Experten meinen bis zum 9. Tag) empfinden und somit die männlichen Embryonen bis zu diesem Tag vernichtet werden können. Bei Menschen wird bis zur 12. Schwangerschaftswoche eine Abtreibung nicht strafrechtlich verfolgt, also bis etwa zum ersten Drittel der Schwangerschaftszeit. Beides ist für viele Menschen und dem Gesetzgeber offenbar moralisch und ethisch kein Problem oder zumindest hinnehmbar!

Fazit

Jeder Züchter, jeder Zucht- und Preisrichter und auch jeder Kritiker der Federhauben muss differenzieren zwischen dem genetischen Merkmal „Haube“ und der extremen Ausprägung dieses Merkmals. Haubenvögel haben a priori keine Schäden, die Schmerzen und Leiden hervorrufen. Es sind muntere, fruchtbare Kanarienvögel, wie alle anderen Kanarienrassen auch.

Einer extremen Ausprägung des Merkmals „Haube“ ist jedoch züchterisch entgegenzutreten. Ein generelle und pauschale Verurteilung der Haubenvögel als „Qualzucht“ ist unseriös und nicht zielführend.

Deutsche Haube Phaeo
Deutsche Haube Phaeo

Quellen und Literatur

[1] F. von Wickede: Kanari-Uitspanning of nieuwe Verhandeling van de Kanari-Teelt. 1. Ausgabe: von Steven van Esveldt, Amsterdam 1750.

[2] C. B. Davenport: Inheritance in Canaries. Washington D. C., 1908.

[3] H. Duncker: Kurzgefaßte Vererbungslehre für Kleinvogelzüchter unter besonderer Berücksichtigung der Kanarienvögel und Wellensittiche. Verlag Dr. F. Poppe, Leipzig C 1, 1929.

[4] D. Schulze: Untersuchung zur Vererbung, zur Phänomenologie und zur Tierschutzrelevanz der Haubenbildung bei Kanarien. Diss. Tierärztliche Hochschule Hannover, 1985.

[5] Referentenentwurf zum Tierschutzgesetz. https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Glaeserne-Gesetze/Referentenentwuerfe/tierschutzgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=7

Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen), 2005. Unter: https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-paragraf11b.html

Prof.Dr. H.-J. Schille, Dr. H. Claßen, Dr. M. Götz, Prof.Dr. S. Becker, Prof.Dr.Dr. W. Stanek: Extremmerkmale bei Ziervögeln. Gutachterliche Stellungnahme zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes. Mai 2016. Unter: https://www.vogelbund.de/wp-content/uploads/2022/05/Gutachten-zu-Extremmerkmalen-bei-Ziervoegeln-2016.pdf

Extremmerkmale bei Ziervögeln. Gutachterliche Stellungnahme zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes vom DKB.

N. Schramm: Kompendium-Kanarien, Band 1, 2 und 3. Books on Demand, Norderstedt, 2017 und 2022.

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