veröffentlicht im „Der Vogelfreund“ 2/2023
veröffentlicht im „Dansk Kanarie“ 7/2023
Geschlechtsdimorphismus und Evolution
Alle Wildvögel besitzen Federn, die für ihre artgerechte Lebensweise erforderlich sind. Bei vielen Arten sind die Männchen auffälliger gefärbt als die Weibchen. Für die Balz und der Revierverteidigung ist es erforderlich, dass Männchen ihre Gefiederfarben gut zu Geltung bringen. Die gelb oder rot gefärbten Gefiederzonen sind oft ausgedehnter, intensiver und leuchtender, die braunen oder schwarzen Melaninfarben satter gefärbt als bei den Weibchen. Das Gefieder der Weibchen ist bei den meisten Carduelidenarten weniger bunt und farbkräftig. Oft haben sie mehr braunes Melanin im Gefieder eingelagert. Ein unauffälliges Gefieder tarnt die Weibchen während der Brut im Nest. In der Gefiederfarbe besteht also ein Geschlechtsdimorphismus, der je nach Art unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Wildformen der Cardueliden besitzen jedoch keine intensiven oder nichtintensiven Federn, wie wir es von den Kanarien kennen, denn es gibt einen drastischen Unterschied: Cardueliden haben niemals eine farbstofffreie – und damit weiße – Federspitze!
Diese farbstofffreie Federspitze ist im Laufe der Domestikation des Kanarengirlitz entstanden. Eine Mutation machte die Feder etwas länger und breiter und ließ die Federspitze unpigmentiert. Vermutlich hat sich diese Eigenschaft zuerst bei den Kanarienweibchen manifestiert. Inzwischen ist dieses Merkmal nicht mehr zwingend an das Geschlecht gebunden. Wir haben heute Kanarienweibchen mit schmalen, kurzen Federn, mit oder ohne weißer Federspitze. Wir kennen Männchen mit langen, breiten Federn, mit oder ohne weißer Federspitze. Kanarien mit weißen Federspitzen, dem „Schimmelrand“, bezeichnen wir als nichtintensive Vögel, Kanarien ohne Schimmel nennen wir intensive Vögel. Aber mit diesen Bezeichnungen berücksichtigen wir nicht die unterschiedlichen Federtexturen, die mit oder ohne weiße Federränder auftreten.
Nichtintensive Kanarien mit ihren weißen Federspitzen wirken wie mit einem Schimmel überzogen. Deshalb werden Vögel mit diesem Merkmal immer noch als „schimmel“ bezeichnet. In der deutschen Sprache gibt es jedoch weder ein Adjektiv noch ein Verb „schimmel“. Bestenfalls gibt es das Adjektiv „schimm(e)lig“ im Sinne von verdorben, und das Substantiv „Schimmel“ im Sinne eines weißen Pferdes oder den Belag auf Käse oder Wände. Wir sollten also die Bezeichnung „nichtintensiv“ verwenden, die in nahezu allen Sprachen übertragbar und verständlich ist.
Historische Überlegungen zur Genetik der Intensität
Auszug aus „Biometrika“ von Galloway mit Darstellung der Nachkommen-Verhältnisse
Der Augenarzt und Vogelzüchter Alexander Rudolf Galloway war offenbar der Erste und bisher Einzige, der eine umfangreiche Statistik über die Intensität erstellte und in seinem Werk „Biometrika“ 1909 veröffentlichte.[1]
Bei Paarungen intensiv x nichtintensiv war das Verhältnis der Nachkommen 3:2 (101:66) zu Gunsten der intensiven Vögel. Bei der Verpaarung zweier intensiver Vögel lag das Verhältnis bei 3:1 (50 intensiv : 16 nichtintensiv), wobei weitere 4 Nachkommen weder als intensiv oder nichtintensiv erkennbar waren.
Duncker machte im Februar 1924 in einem Artikel in der „Gefiederten Welt“ einen Federstrahlenverdickungsfaktor „F“ für die intensive bzw. „f“ für die nichtintensive Lipochromfärbung verantwortlich.[2] Duncker kannte die Arbeit Galloways und ging ausführlich auf diese ein. Jedoch konnte Duncker sich aber die Ursache dieser Galloway‘schen Verhältnisse nicht erklären. Er konnte nicht aus seinem Gedankenmodell ausbrechen, das das Merkmal „Intensiv“ dominant vererbt, und demzufolge auch in diesem Fall ein Letalfaktor vorliegen muss, wie es bei Haubenkanarien und den Dominantweißen der Fall ist. Er schreibt: „Es läßt sich aber der Fall auch unter der Annahme, daß die homozygoten „hochgelben“ Vögel stets absterben und trotzdem das Verhältnis 3:1 gewahrt bleibt, auf folgende Weise erklären.“ Und führte einen weiteren Faktor L ein, um Galloways Verhältnis zu erklären. Auf die Schlussfolgerung, dass es möglicherweise keinen Letalfaktor gibt, ist er nicht gekommen.
Vierzig Jahre später folgte Henniger dem Gedankengang Dunckers. Henniger gab den „reinerbigen“ nichtintensiven (blasse oder B-Vögel) Kanarien die Erbformel ii und den reinerbig intensiven (tiefe oder A-Vögel) Kanarien die Formel II. Nach seiner Auffassung wird das Merkmal „intensiv“ frei und dominant gegenüber „nichtintensiv“ vererbt. Deshalb müsse es auch spalterbige intensive Vögel geben, die er mit Ii bezeichnete.[3] Doppelfaktorige Vögel (II) könne es nicht geben, da diese im Ei absterben.
Der DKB übernahm diese Formeln,[4] allerdings mit anderer Bedeutung: II = schimmel, ii = intensiv (reinerbig), Ii = intensiv (spalterbig).
Nach Henniger wäre bei einer Verpaarung von intensiv x nichtintensiv das Verhältnis 1:1 und bei einer Verpaarung zweier intensiver Vögel wäre das Verhältnis 2:1 zugunsten der intensiven Vögel. Im Gegensatz dazu ist bei Galloway der Anteil der intensiven Nachkommen in beiden Fällen deutlich höher. Galloways Ergebnisse sind nur dann möglich und erklärbar, wenn ein Teil der intensiven Vögel doppelfaktorig (hochgelb), diese also lebensfähig und fortpflanzungsfähig waren.
Da sich ein- und zweifaktorige intensive Vögel nur schlecht oder gar nicht unterscheiden, können die Verhältnisse Galloways nicht näher interpretiert werden. Tatsache ist jedoch, dass es dominante Faktoren gibt, die keine letale Auswirkungen haben (siehe Jaspe-Kanarien, dilute bei Zeisigen usw.). Außerdem sind Figurenkanarienrassen wie Gibber Italicus, Giboso Español aus Verpaarungen intensiver Vögel untereinander entstanden. Diese Rassen existieren bis heute, sind lebensfroh und fruchtbar! Die Verhältnisse der Nachkommen aus solchen Verpaarungen entsprechen weitgehend den von Galloway aufgezeigten.
Intensität wird als Qualzucht abgestempelt
Wie aufgezeigt, konnte Duncker sich das dargestellte Verhältnis Galloways nicht vernünftig erklären. Weder Dunker noch Henniger haben in Versuchsreihen einen Letalfaktor nachgewiesen. Offenbar wurden damals lediglich Analogien zu den dominanten Faktoren „Haube“ und „Dominantweiß“ gezogen. Trotzdem wird diese vermeintliche Tatsache bis heute publiziert und auch von „Wissenschaftlern“ ungeprüft übernommen. Da ist es kein Wunder, dass die intensive Federtextur in das „Qualzuchtgutachten“[5] eingegangen ist. Darin heißt es: „Homozygotie für das Merkmal ,Intensive Gefiederfärbung‘ führt zum Embryonaltod.“ Als Quellen für diese Behauptung werden die Doktorarbeit von Werner Schicktanz[6] (seine Arbeit wurde vom Komitee gegen Vogelmord finanziert!) und das Buch „Die Positurkanarien“ von Dr. Hans Claßen[7] angeführt. Schicktanz hat in Bezug auf die Intensität keinerlei Untersuchungen vorgenommen und Dr. Hans Claßen hat kein Wort über einen Embryonaltod geschrieben. Trotzdem fordern die Gutachter: „Verbot der Verpaarung von Kanarienvögeln, die beide das Gen für das Merkmal ,Intensive Gefiederfärbung‘ tragen“.
Fließende Übergänge und quantitative Merkmale
Jeder Kanarienzüchter weiß, dass es eine unüberschaubare Anzahl von Übergangsformen zwischen intensiven und nichtintensiven Kanarien gibt. Es gibt intensive Vögel mit einer Winzigkeit an weißen Federrändern, es gibt nichtintensive Kanarien mit sehr großen weißen Federrändern, die sich an einigen Körperstellen ballen. Es ist also mehr als logisch, dass diese Intensitätsvielfalt nicht mit zwei Allelen (I oder i) erklärbar ist. Wir haben es hier mit einer quantitativen Vererbung zu tun, die nicht in das von uns bevorzugte Erbschema „vorhanden / nichtvorhanden“ darstellbar ist. Meist sind quantitative Merkmale auf das Zusammenwirken mehrerer Gene – oder auf das mehrmalige Einwirken eines Gens – in die Synthesekette zurückzuführen.
Die quantitative Vererbung ermöglicht dem Züchter durch geschicktes Verpaaren ein bestimmtes Zuchtziel zu erreichen. Er wird sich dabei immer an den Standard der jeweiligen Kanarienrasse orientieren und Vögel zur Zucht verwenden, deren Nachkommen dem Zuchtziel möglichst nahekommen. Dabei ist die Regel „verpaare immer intensiv mit nichtintensiv“ nur ein ganz grober Hinweis. Die Realitäten sind weitaus vielfältiger, da die Ausprägung des Schimmelbelages sehr unterschiedlich sein kann. Viel wichtiger ist, dass die Federtextur beachtet wird.
Wer einen nichtintensiven Vogel mit einem breiten Schimmelrand und einer langen, breiten Feder mit einem intensiven Vogel verpaart, der ebenfalls eine lange und breite Feder besitzt, wird Nachkommen erzielen, die ein sehr üppiges, lockeres Gefieder haben.
Häufigkeit der Nachkommen aus Verpaarungen von Vögeln mit unterschiedlicher Intensität.
Verpaaren wir z. B. einen intensiven mit einem nichtintensiven Vogel, verteilen sich deren Nachkommen auf die einzelnen Intensitätsvarianten (rote Glockenkurve). Diese „Normalverteilung“ nach Carl Friedrich Gauß gilt auch für andere Verpaarungsvarianten. Je weniger sich die Elternvögel in der Intensität unterscheiden, umso steiler wird die Kurve sein, d. h. umso weniger unterscheiden sich die Nachkommen.
Wer einen intensiven Vogel mit einer kurzen, schmalen und harten Feder und einen nichtintensiven Vogel mit einer ähnlichen Federtextur verpaart, wird Nachkommen erzielen, die ebenfalls ein knappes Gefieder besitzen. Wenn man dies über einige Generationen fortführt, steigt die Reinerbigkeit für das Merkmal „kurze, schmale Federtextur“, unabhängig davon, ob die Vögel Schimmel besitzen oder nicht. Die Federn solcher Nachkommen werden immer schmaler, kürzer, härter und damit auch brüchiger. Im Extremfall bedecken sie manche Körperstellen nicht mehr vollständig. Nun könnte man vermuten, dass mit dieser Zuchtpraxis ein Vitalitätsverlust der Nachkommen verbunden ist. Dass dem nicht so ist, beweisen die Züchter der Gibber Italicus, die diese Zuchtpraxis anwenden. Sie erfreuen sich an dieser Rasse seit mehr als 70 Jahren, an ihrer Vitalität und an den zahlreichen Nachkommen.
Warum ist das so? Weil man zwischen Ausstellungsvögel und Zuchtvögel unterscheiden muss. Ein Zuchtvogel, der auf Ausstellungen Punktabzüge aufgrund seiner nicht optimalen Federtextur und Intensität hinnehmen muss, kann als Zuchtvogel aber sehr wertvoll sein. Der Standard fordert z. B. für einen Gibber Italicus ein sehr knappes Gefieder. Es werden daher kaum Vögel zur Ausstellung und Bewertung gebracht, die diese Forderung weniger erfüllen. Für die Zucht sind Vögel mit einem etwas üppigeren Gefieder jedoch sehr wertvoll.
Weder durch statistische Erfassungen noch durch andere wissenschaftliche Untersuchungen ist bisher eine Letalität bei der Verpaarung zweier intensiver Kanarien nachgewiesen worden. Seit mehr als 50 Jahren beweist die Zuchtpraxis, dass es solch eine Letalität nicht gibt!
Die Aussagen, die Hans Duncker vor 100 Jahren und Julius Henniger vor 60 Jahren zur Vererbung der Intensität gemacht hat, kann man entschuldigen. Sie wussten es als Kanarienzüchter nicht anders. Nicht zu entschuldigen ist, dass Professoren und Doktoren in ihrem Gutachten Aussagen aus der Populärliteratur ungeprüft übernehmen, und so den verantwortungsvollen Kanarienzüchtern unterstellen, dass sie ihren Vögeln dauerhaft Schmerzen, Leiden und Schäden zufügen.
Quellen
[1] Galloway, A. R.: Biometrika. Canary Breeding. A Partial Analysis Of Records From 1891-1909. Aberdeen.
[2] Duncker, H.: Exakte Vererbungsversuche bei Kanarienvögeln. Die Gefiederte Welt, Jahrgang 53, Februar 1924, Seite 21.
[3] Henniger, J.: Farbenkanarien. Ein Lehrbuch für Farbenkanarienzüchter, insbesondere über Farbenvererbung. Maximiliansau 1962.
[4] Unter: https://www.vogelbund.de/vererbung-beim-kanarienvogel/
[5] Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes (Verbot von Qualzüchtungen), 2005. Unter: https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/tierschutz/gutachten-paragraf11b.html
[6] Schicktanz, W.: Phänomenologie, Tierschutzrelevanz und Zuchtsituation bei Positurkanarien, untersucht am Beispiel des „Gibber Italicus“. Diss. vet. med., Hannover, 1987.
[7] Claßen, H.: Die Positurkanarien. Albrecht Philler Verlag, Minden, 1986.