11. Oktober 2024

Ursachen der Gefiederfrisuren

veröffentlicht im „Der Vogelfreund“ 6/2023

Mehringer gescheckt
Mehringer Frisé gescheckt
Viele Vogelliebhaber und Vogelzüchter finden großen Gefallen an Vögeln, die ein abweichendes Federkleid besitzen. Das können andere Gefiederfarben, aber auch ein besonders gestaltetes Gefieder sein. Diese Vögel sind etwas Außergewöhnliches, es sind Vögel, die optisch aus dem „normalen“ Rahmen fallen. Seit nahezu 200 Jahren erregen „frisierte“ Kanarienvögel Aufmerksamkeit und sind deshalb in großer Rassenvielfalt entwickelt worden. Ein Trend, der bis heute anhält. Zur Historie der Frisé-Kanarien hat Michael Monthofer bereits eine ausführliche Abhandlung veröffentlicht.[1]

Vorbehalte gegen Frisé-Kanarien

Naturgemäß gibt es jedoch auch Menschen, die Vögel mit Feder„frisuren“ als hässlich empfinden und mit abwertenden Bezeichnungen (Wischmopp, Staubwedel …) versehen. Ihr Ablehnung wird oft nicht nur mit dem persönlichen Geschmack begründet, – über den man bekanntlich nicht streiten kann – sondern sie werden als arme, bedauernswerte und abnorme Geschöpfe betrachtet, die natürlich Schmerzen und Qualen erleiden müssen. Auch Behauptungen, dass diese Vögel ja gar nicht fliegen könnten und ihre Jungvögel nur durch Ammen aufgezogen werden müssten, werden verbreitet.

Solange das persönliche Meinungen einzelner Menschen sind, wären solche Aussagen hinnehmbar. Es finden sich jedoch auch Professoren und Doktoren, die in der Zucht dieser Frisé-Kanarien einen Verstoß gegen den §11b des Tierschutzgesetzes[2] sehen und ein entsprechendes Gutachten („Qualzuchtgutachten“)[3] verfassten. Diese „Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht“ sieht den Tatbestand der Qualzucht immer dann erfüllt, wenn: „… bei Wirbeltieren die durch Zucht geförderten oder die geduldeten Merkmalsausprägungen (Form-, Farb-, Leistungs- und Verhaltensmerkmale) zu Minderleistungen bezüglich Selbstaufbau, Selbsterhaltung und Fortpflanzung führen und sich in züchtungsbedingten morphologischen und / oder physiologischen Veränderungen oder Verhaltensstörungen äußern, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind.[4] Diesen Ausführungen schließen sich die verantwortungsvollen Vogelzüchter und Vogelhalter bedingungslos an!

Versuche eine Qualzucht zu begründen

In der Auflistung der Merkmale und Mutationen, die diese Tatbestände ihrer Meinung nach erfüllen, sind auch die Frisé-Kanarien aufgeführt. Vogelfreunde, die Frisé-Kanarien halten und züchten, können keine Minderleistungen bezüglich Selbstaufbau, Selbsterhaltung, Fortpflanzung und Verhalten feststellen. Da dies die Mitglieder der Sachverständigengruppe jedoch nicht aus eigenem Erleben beurteilen konnten, haben sie Literatur herangezogen, die ihre Meinung stützen sollen.
Das angeführte Buch von Horst Bielfeld ist lediglich als Populärliteratur zu betrachten.[5]
Dr. Hans Claßen hat in seinem Fachbuch keinerlei Hinweise für eine „Qualzucht“ gegeben.[6]
Elisabeth Goessler hat dieses Themenfeld in ihrer Doktorarbeit umfassend untersucht, jedoch finden sich auch hier keinerlei Anhaltspunkte für Leiden oder Qualen, denen frisierte Kanarien ausgesetzt sind.[7]
Bleibt Werner Schicktanz, der in seiner Doktorarbeit[8] den gewünschten Vorgaben des „Komitee gegen Vogelmord“ folgte, das ihn bei seiner Arbeit finanziell unterstützte. Aber auch er konnte in Bezug auf die Federfrisuren keine überzeugenden Argumente einer Qualzucht liefern.
Frisé Parisien gescheckt
Frisé Parisien gescheckt

Die Entwicklung der Federn

Wenn wir die Federn des Rumpfgefieders der normal befiederter Kanarien betrachten, fällt auf, dass die allermeisten Federn leicht gebogen sind. Oft in zwei verschiedene Richtungen. Einmal von der Papille nach oben (distal) um sich danach in einem leichten Bogen wieder nach unten (proximal), zum Körper hin, zu biegen. Somit entsteht ein kleines Luftpolster unter jeder Feder. Die Rumpffedern sind darüber hinaus seitlich nach außen gebogen. Je nach Körperseite nach links oder nach rechts. Nicht seitlich gebogen sind die Schwanz- und Flügeldeckfedern und den meisten Kopffedern.

Kanarienfedern des Kleingefieders
Kanarienfedern des Kleingefieders;
Gebogene Feder einer Körperseite und eine gerade Feder
Die Entwicklung der Feder beschreibt Schildmacher wie folgt: „Die einzelne Feder entsteht, indem sich … durch Zellvermehrung in der Ober- und Lederhaut (Epidermis und Corium) ein Hügel bildet, der sich durch einen ringförmigen Graben gegen die die übrige Oberfläche absetzt. Der Graben vertieft sich zum Federbalg (Follikel), und der Hügel wächst zu einer außen aus Epidermis-, innen aus Coriumzellen gebildeten Papille, die schräg in die Haut eingesenkt ist, so dass die Spitze der wachsenden Feder caudad [nach hinten, schwanzwärts] gerichtet ist.[9]
Austrittswinkel normale und Frise-Feder
Austrittswinkel normale und Frisé-Feder

Die Federn wachsen demnach in einem sehr flachen Winkel aus der Haut. Bei einigen Frisé-Kanarienrassen kann sich dieser Winkel vergrößern, sodass sich die Feder steiler aus der Haut erhebt. Auch eine Wirbelbildung (Haube, Rückenrosette beim AGI und Rogetto) oder eine einfache Richtungsänderung in Richtung Kopf (cranial) ist möglich. All diese Richtungsänderungen sind offenbar durch eine oder mehrere Mutationen entstanden.

Auch Federn haben Muskeln

Ein Vogel kann nur dann fliegen und seinen Flug steuern, wenn der Vogel die Federn bewusst bewegen kann. Aber auch zur Regulierung des Wärmehaushaltes und bei der Balz können einzelne oder alle Federn in unterschiedliche Richtungen bewegt werden. Damit dies möglich ist, setzt ein komplexes Geflecht von Muskeln und Sehnen an jedem Federfollikel an. Dabei sind mehrere benachbarte Follikel miteinander verbunden und bilden ein Netzwerk.[10] Durch dieses Muskelgeflecht können einzelne Federn aufgerichtet, gedreht oder angelegt werden.[11] Die Muskeln zum Anheben der Federn sind weniger kräftig ausgebildet als die Muskeln zum Absenken der Feder.[12]
Muskeln und Nerven
Muskel- und Fasergeflecht im Bereich der Follikel (nach Burckhardt et al. 1979)

Die bewusste Lageänderung der Federn durch Muskeln und Sehnen bedarf jedoch auch einer Information an das Vogelhirn über die gegenwärtige Stellung der Federn. Deshalb sitzen an den Muskeln und Federbälgen zahlreiche Sensoren und Tastkörperchen, die wiederum mit Nervenbahnen verbunden sind, und den Vogel über die Stellung der Federn informieren.

Dass Federfrisuren mit der Muskelarbeit und dem Muskeltonus zusammenhängen müssen, hat schon C. L. W. Noorduijn im Jahr 1905 (!) festgestellt. Er schreibt in diesem Zusammenhang:

„Auf mein Ersuchen, mir bei Gelegenheit einen toten Vogel zu senden, der mit dem ersten Preis gekrönt war, um ihn ausstopfen zu lassen, erhielt ich zur Antwort, daß die schönen Federn beim Tode das Gekräusel verlieren und daß ein solch ausgestopfter Vogel somit keinen richtigen Begriff geben würde betreffs seines Aussehens im lebenden und gesunden Zustande.“

Er schreibt weiter: „Der ,serin hollandais‘ liebt die Wärme und entfaltet sein Gefieder meistens nur dann, wenn er sich behaglich fühlt. Ist er niedergeschlagen oder schläft er, sieht man wenig mehr von seinem reichen Federschmucke.[13]

Elisabeth Gössler, deren Doktorarbeit im „Qualzuchtgutachten“ als Quelle aufgeführt wurde, schreibt: „Werden aber Holländer und gewöhnliche Kanarien schlafend nebeneinander betrachtet, könnten sie kaum mehr voneinander unterschieden werden, wenn nicht die Holländer einen längeren Schwanz hätten. Von einer Anormalität in der Federstellung ist nichts mehr zu sehen; der Holländer bildet dasselbe runde Federbällchen wie der normale. Auch in krankem Zustande stehen seine Federn nicht mehr gescheitelt vom Körper ab, sondern liegen normal an, und so ist es auch beim toten Vogel, der deshalb nicht als typischer Holländer ausgestopft werden kann.[7]

Federtextur, Federlänge und Vogelgröße

Zwischen den Federn der Frisé-Kanarien und den glatt befiederten Kanarien lassen sich weder makroskopisch noch mikroskopisch strukturelle Unterschiede feststellen. Es handelt sich demnach bei den Federn der Frisé-Kanarien nicht um „gelockte“ oder „gekräuselte“ Federn, wie sie z. B. bei Lockengänsen oder Strupphühnern zu finden sind. Trotzdem wird oft noch von „Lockenkanarien“ gesprochen. Auch in der englischen Sprache (frilled), im Italienischen (arracciato) oder im Französischen (frisé) hat sich der alte nichtzutreffende Begriff bis heute gehalten, ist aber als „Frisé“ inzwischen durch die C.O.M. international verbindlich geworden.

Die Federlänge hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Frisur, denn es gibt langfedrige und kurzfedrige Frisé-Kanarien, so wie es auch bei den glatt befiederten Kanarien kurz- und langfedrige Rassen gibt. Die Federlänge steht auch nicht immer mit der Körpergröße in unmittelbaren Zusammenhang. Es gibt kleine Vögel mit relativ langen Gefieder (z. B. Gloster Fancy), aber auch große Vögel mit einem relativ kurzen Gefieder (z. B. Llarguet Español). Hinzu kommt in allen Fällen, das es bei jeder Kanarienrasse intensive und nichtintensive Exemplare gibt, deren Federlänge und Federbreite unterschiedlich groß ausgebildet sein kann. Auch können unterschiedliche Körperregionen, aus denen die Federn entspringen, unterschiedlich lange Federn hervorbringen. Beispielhaft ist hier die Kanarienrasse Persian Rasmi zu nennen, der ein normal langes Körpergefieder, aber extrem lange Schwanzfedern hat. Die Frisé du Nord (Nordholländer), die Frisé du Sud (Südholländer) und die Fiorinos haben, bis auf die drei Hauptfrisuren (Rücken-, Brust- und Flanken-Frisur), ein glatt anliegendes Gefieder. Es kann also nicht behauptet werden, dass frisierte Kanarien generell längere Federn haben müssen.[14]
Fiorino Haube gescheckt weißgrundig

Es trifft auch nicht zu, dass Gene, die die langen – und vermeintlich „gelockten“ (also „verdrehten“) Federn des Frisé Parisien hervorrufen sollen – auch die Krallen lang und verdreht wachsen lassen („Korkenzieherkrallen“) würden. Wenn das der Fall wäre, müsste diese Krallendeformation auch bei anderen üppig frisierten Rassen auftreten, was jedoch nicht der Fall ist. Durch entsprechende Zuchtauslese lassen sich solch deformierte Krallen weitgehend vermeiden. Wichtig ist, dass bei Auftreten solcher Krallen deren wiederholte Kürzung notwendig ist. Auf deutschen Bewertungsschauen werden Frisé Parisien mit Korkenzieherkrallen Abzugspunkte hinnehmen müssen; in anderen Ländern gelten sie jedoch als ein Hinweis auf Rassereinheit des Vogels.

Eine weitere Ungereimtheit ist es, wenn in den Rasse-Standards des Gibber Italicus und des Giboso Español geschrieben steht, dass nur intensive Vögel zur Bewertung zugelassen sind, andererseits aber alle Farben erlaubt sind. Zur Farbe gehört auch die Intensität. Wichtig ist einzig und allein, dass die Federfrisuren dem Standard entsprechen!

Fazit

Arricciato Gigante Italiano (AGI) Weiß
Arricciato Gigante Italiano (AGI) Weiß

Unsere Frisé-Kanarienrassen sind domestizierte, vitale, erbgesunde und, ohne Zutun des Menschen, fortpflanzungsfähige Ziervögel, die seit nahezu 200 Jahren gezüchtet werden. Wie bei allen zu pflegenden Tieren, sei es Hund, Katze, Pferd usw., müssen die Bedürfnisse der Rasse und der einzelnen Individuen berücksichtigt werden. Frisé-Kanarien mögen es warm und trocken. Spärlich befiederte Rassen benötigen mehr Wärme als üppig befiederte Frisé-Kanarien. Bei entsprechender individueller Wohlfühltemperatur werden sie ihre Federfrisuren optimal zur Schau stellen. Auch deshalb ist auf Vogelschauen auf eine Mindesttemperatur von 18° C zu achten. Bei feuchtkalter Witterung kann der Frisé-Vogel sein Gefieder so eng an den Körper anlegen, das von den Frisuren kaum etwas zu sehen ist.

Wenn der Frisé-Vogel schläft oder krank ist, plustert er das Gefieder ebenso auf, wie es andere Vögel auch tun. Jungvögel, die noch im Nest sitzen oder gerade ausgeflogen sind, zeigen ebenfalls nur Andeutungen einer Frisur. Erst wenn sie einen guten Vitalstatus erlangt haben, werden sie nach und nach die ihnen angeborenen Frisuren zeigen.

All diese Reaktionen sind Hinweise darauf, dass die Frisé-Kanarien ihre Frisuren durch einen entsprechenden Muskeltonus zeigen können oder auch nicht. Unter Beachtung der notwendigen Haltungsbedingungen gibt es weder Minderleistungen bezüglich Selbstaufbau, Selbsterhaltung und Fortpflanzung, noch sind morphologische und/oder physiologische Veränderungen oder Verhaltensstörungen erkennbar, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind.

Quellen

[1] M. Monthofer: Einige Bemerkungen zur rassegeschichtlichen Entwicklung der Frisé-Kanarien. Kanarienfreund 12/1995. Unter: https://www.vogelbund.de/fruehe-rassegeschichtliche-entwicklung-der-frise-kanarien

[2] Tierschutzgesetz (TierSchG). Unter: https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html

[3] Gutachten zur Auslegung von Paragraf 11b des Tierschutzgesetzes. Herausgegeben vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 26.10.2005. Unter: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Tierschutz/Gutachten-Leitlinien/Qualzucht.pdf?__blob=publicationFile&v=2

[4] Vgl. Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidungskonzept, DVG-Fachgruppe Verhaltensforschung, Gießen: Verlag DVG 1987.

[5] H. Bielfeld: Kanarien. Eugen Ulmer, Stuttgart 1978.

[6] H. Claßen: Die Positurkanarien. Albrecht Philler Verlag, Minden 1986.

[7] E. Goessler: Untersuchungen über die Entwicklung und Entstehung von Gefiederaberrationen. Ein Beitrag zur Phänogenetik von Federform- und Federstellungsanomalien bei domestizierten Vogelrassen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde, Universität Zürich 1938.

[8] W. Schicktanz: Phänomenologie, Tierschutzrelevanz und Zuchtsituation bei Positurkanarien, untersucht am Beispiel des „Gibber Italicus“. Diss. vet. med., Hannover, 1987.

[9] H. Schildmacher: Einführung in die Ornithologie. VEB Gustav Fischer Verlag Jena, 1982.

[10] W. J. Bock: Explanatory history of the origin of feathers. Amer. Zool. 40/2000, 478-485.

[11] C. Burckhardt, D. W. Fölsch, U. Scheifele: Das Gefieder des Huhnes. Animal Management / Tierhaltung Volume 9, 1979.

[12] L. Kämpfe: Federentstehung und Vogelflug – neue evolutionsbiologische Gesichtspunkte. Praxis Nat. – Biol. in der Schule 6/2003, 40-46.

[13] C. L. W. Noorduijn: Die Farben- und Gestaltskanarien. Creutz’sche Verlagsbuchhandlung Magdeburg, 1905.

[14] U. Zingoni, M. Del Prete: Contributo alla conoscenza del piumaggio dei Canarini Arricciati. Italia Ornitologica, 12/1982 und 1/1983.

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