veröffentlicht im „Der Vogelfreund“ 6/2023
Vorbehalte gegen Frisé-Kanarien
Solange das persönliche Meinungen einzelner Menschen sind, wären solche Aussagen hinnehmbar. Es finden sich jedoch auch Professoren und Doktoren, die in der Zucht dieser Frisé-Kanarien einen Verstoß gegen den §11b des Tierschutzgesetzes[2] sehen und ein entsprechendes Gutachten („Qualzuchtgutachten“)[3] verfassten. Diese „Sachverständigengruppe Tierschutz und Heimtierzucht“ sieht den Tatbestand der Qualzucht immer dann erfüllt, wenn: „… bei Wirbeltieren die durch Zucht geförderten oder die geduldeten Merkmalsausprägungen (Form-, Farb-, Leistungs- und Verhaltensmerkmale) zu Minderleistungen bezüglich Selbstaufbau, Selbsterhaltung und Fortpflanzung führen und sich in züchtungsbedingten morphologischen und / oder physiologischen Veränderungen oder Verhaltensstörungen äußern, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind.“[4] Diesen Ausführungen schließen sich die verantwortungsvollen Vogelzüchter und Vogelhalter bedingungslos an!
Versuche eine Qualzucht zu begründen
Das angeführte Buch von Horst Bielfeld ist lediglich als Populärliteratur zu betrachten.[5]
Dr. Hans Claßen hat in seinem Fachbuch keinerlei Hinweise für eine „Qualzucht“ gegeben.[6]
Elisabeth Goessler hat dieses Themenfeld in ihrer Doktorarbeit umfassend untersucht, jedoch finden sich auch hier keinerlei Anhaltspunkte für Leiden oder Qualen, denen frisierte Kanarien ausgesetzt sind.[7]
Bleibt Werner Schicktanz, der in seiner Doktorarbeit[8] den gewünschten Vorgaben des „Komitee gegen Vogelmord“ folgte, das ihn bei seiner Arbeit finanziell unterstützte. Aber auch er konnte in Bezug auf die Federfrisuren keine überzeugenden Argumente einer Qualzucht liefern.
Die Entwicklung der Federn
Wenn wir die Federn des Rumpfgefieders der normal befiederter Kanarien betrachten, fällt auf, dass die allermeisten Federn leicht gebogen sind. Oft in zwei verschiedene Richtungen. Einmal von der Papille nach oben (distal) um sich danach in einem leichten Bogen wieder nach unten (proximal), zum Körper hin, zu biegen. Somit entsteht ein kleines Luftpolster unter jeder Feder. Die Rumpffedern sind darüber hinaus seitlich nach außen gebogen. Je nach Körperseite nach links oder nach rechts. Nicht seitlich gebogen sind die Schwanz- und Flügeldeckfedern und den meisten Kopffedern.
Die Federn wachsen demnach in einem sehr flachen Winkel aus der Haut. Bei einigen Frisé-Kanarienrassen kann sich dieser Winkel vergrößern, sodass sich die Feder steiler aus der Haut erhebt. Auch eine Wirbelbildung (Haube, Rückenrosette beim AGI und Rogetto) oder eine einfache Richtungsänderung in Richtung Kopf (cranial) ist möglich. All diese Richtungsänderungen sind offenbar durch eine oder mehrere Mutationen entstanden.
Auch Federn haben Muskeln
Die bewusste Lageänderung der Federn durch Muskeln und Sehnen bedarf jedoch auch einer Information an das Vogelhirn über die gegenwärtige Stellung der Federn. Deshalb sitzen an den Muskeln und Federbälgen zahlreiche Sensoren und Tastkörperchen, die wiederum mit Nervenbahnen verbunden sind, und den Vogel über die Stellung der Federn informieren.
Dass Federfrisuren mit der Muskelarbeit und dem Muskeltonus zusammenhängen müssen, hat schon C. L. W. Noorduijn im Jahr 1905 (!) festgestellt. Er schreibt in diesem Zusammenhang:
„Auf mein Ersuchen, mir bei Gelegenheit einen toten Vogel zu senden, der mit dem ersten Preis gekrönt war, um ihn ausstopfen zu lassen, erhielt ich zur Antwort, daß die schönen Federn beim Tode das Gekräusel verlieren und daß ein solch ausgestopfter Vogel somit keinen richtigen Begriff geben würde betreffs seines Aussehens im lebenden und gesunden Zustande.“
Er schreibt weiter: „Der ,serin hollandais‘ liebt die Wärme und entfaltet sein Gefieder meistens nur dann, wenn er sich behaglich fühlt. Ist er niedergeschlagen oder schläft er, sieht man wenig mehr von seinem reichen Federschmucke.[13]
Elisabeth Gössler, deren Doktorarbeit im „Qualzuchtgutachten“ als Quelle aufgeführt wurde, schreibt: „Werden aber Holländer und gewöhnliche Kanarien schlafend nebeneinander betrachtet, könnten sie kaum mehr voneinander unterschieden werden, wenn nicht die Holländer einen längeren Schwanz hätten. Von einer Anormalität in der Federstellung ist nichts mehr zu sehen; der Holländer bildet dasselbe runde Federbällchen wie der normale. Auch in krankem Zustande stehen seine Federn nicht mehr gescheitelt vom Körper ab, sondern liegen normal an, und so ist es auch beim toten Vogel, der deshalb nicht als typischer Holländer ausgestopft werden kann.“[7]
Federtextur, Federlänge und Vogelgröße
Zwischen den Federn der Frisé-Kanarien und den glatt befiederten Kanarien lassen sich weder makroskopisch noch mikroskopisch strukturelle Unterschiede feststellen. Es handelt sich demnach bei den Federn der Frisé-Kanarien nicht um „gelockte“ oder „gekräuselte“ Federn, wie sie z. B. bei Lockengänsen oder Strupphühnern zu finden sind. Trotzdem wird oft noch von „Lockenkanarien“ gesprochen. Auch in der englischen Sprache (frilled), im Italienischen (arracciato) oder im Französischen (frisé) hat sich der alte nichtzutreffende Begriff bis heute gehalten, ist aber als „Frisé“ inzwischen durch die C.O.M. international verbindlich geworden.
Es trifft auch nicht zu, dass Gene, die die langen – und vermeintlich „gelockten“ (also „verdrehten“) Federn des Frisé Parisien hervorrufen sollen – auch die Krallen lang und verdreht wachsen lassen („Korkenzieherkrallen“) würden. Wenn das der Fall wäre, müsste diese Krallendeformation auch bei anderen üppig frisierten Rassen auftreten, was jedoch nicht der Fall ist. Durch entsprechende Zuchtauslese lassen sich solch deformierte Krallen weitgehend vermeiden. Wichtig ist, dass bei Auftreten solcher Krallen deren wiederholte Kürzung notwendig ist. Auf deutschen Bewertungsschauen werden Frisé Parisien mit Korkenzieherkrallen Abzugspunkte hinnehmen müssen; in anderen Ländern gelten sie jedoch als ein Hinweis auf Rassereinheit des Vogels.
Eine weitere Ungereimtheit ist es, wenn in den Rasse-Standards des Gibber Italicus und des Giboso Español geschrieben steht, dass nur intensive Vögel zur Bewertung zugelassen sind, andererseits aber alle Farben erlaubt sind. Zur Farbe gehört auch die Intensität. Wichtig ist einzig und allein, dass die Federfrisuren dem Standard entsprechen!
Fazit
Unsere Frisé-Kanarienrassen sind domestizierte, vitale, erbgesunde und, ohne Zutun des Menschen, fortpflanzungsfähige Ziervögel, die seit nahezu 200 Jahren gezüchtet werden. Wie bei allen zu pflegenden Tieren, sei es Hund, Katze, Pferd usw., müssen die Bedürfnisse der Rasse und der einzelnen Individuen berücksichtigt werden. Frisé-Kanarien mögen es warm und trocken. Spärlich befiederte Rassen benötigen mehr Wärme als üppig befiederte Frisé-Kanarien. Bei entsprechender individueller Wohlfühltemperatur werden sie ihre Federfrisuren optimal zur Schau stellen. Auch deshalb ist auf Vogelschauen auf eine Mindesttemperatur von 18° C zu achten. Bei feuchtkalter Witterung kann der Frisé-Vogel sein Gefieder so eng an den Körper anlegen, das von den Frisuren kaum etwas zu sehen ist.
Wenn der Frisé-Vogel schläft oder krank ist, plustert er das Gefieder ebenso auf, wie es andere Vögel auch tun. Jungvögel, die noch im Nest sitzen oder gerade ausgeflogen sind, zeigen ebenfalls nur Andeutungen einer Frisur. Erst wenn sie einen guten Vitalstatus erlangt haben, werden sie nach und nach die ihnen angeborenen Frisuren zeigen.
All diese Reaktionen sind Hinweise darauf, dass die Frisé-Kanarien ihre Frisuren durch einen entsprechenden Muskeltonus zeigen können oder auch nicht. Unter Beachtung der notwendigen Haltungsbedingungen gibt es weder Minderleistungen bezüglich Selbstaufbau, Selbsterhaltung und Fortpflanzung, noch sind morphologische und/oder physiologische Veränderungen oder Verhaltensstörungen erkennbar, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind.
Quellen
[1] M. Monthofer: Einige Bemerkungen zur rassegeschichtlichen Entwicklung der Frisé-Kanarien. Kanarienfreund 12/1995. Unter: https://www.vogelbund.de/fruehe-rassegeschichtliche-entwicklung-der-frise-kanarien
[2] Tierschutzgesetz (TierSchG). Unter: https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html
[3] Gutachten zur Auslegung von Paragraf 11b des Tierschutzgesetzes. Herausgegeben vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 26.10.2005. Unter: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Tiere/Tierschutz/Gutachten-Leitlinien/Qualzucht.pdf?__blob=publicationFile&v=2
[4] Vgl. Bedarfsdeckungs- und Schadensvermeidungskonzept, DVG-Fachgruppe Verhaltensforschung, Gießen: Verlag DVG 1987.
[5] H. Bielfeld: Kanarien. Eugen Ulmer, Stuttgart 1978.
[6] H. Claßen: Die Positurkanarien. Albrecht Philler Verlag, Minden 1986.
[7] E. Goessler: Untersuchungen über die Entwicklung und Entstehung von Gefiederaberrationen. Ein Beitrag zur Phänogenetik von Federform- und Federstellungsanomalien bei domestizierten Vogelrassen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde, Universität Zürich 1938.
[8] W. Schicktanz: Phänomenologie, Tierschutzrelevanz und Zuchtsituation bei Positurkanarien, untersucht am Beispiel des „Gibber Italicus“. Diss. vet. med., Hannover, 1987.
[9] H. Schildmacher: Einführung in die Ornithologie. VEB Gustav Fischer Verlag Jena, 1982.
[10] W. J. Bock: Explanatory history of the origin of feathers. Amer. Zool. 40/2000, 478-485.
[11] C. Burckhardt, D. W. Fölsch, U. Scheifele: Das Gefieder des Huhnes. Animal Management / Tierhaltung Volume 9, 1979.
[12] L. Kämpfe: Federentstehung und Vogelflug – neue evolutionsbiologische Gesichtspunkte. Praxis Nat. – Biol. in der Schule 6/2003, 40-46.
[13] C. L. W. Noorduijn: Die Farben- und Gestaltskanarien. Creutz’sche Verlagsbuchhandlung Magdeburg, 1905.
[14] U. Zingoni, M. Del Prete: Contributo alla conoscenza del piumaggio dei Canarini Arricciati. Italia Ornitologica, 12/1982 und 1/1983.